Just Ride!

Ein grosser, weiser Mann sagte vor vielen Jahren: Trau keinem Buch, dessen Titel nicht einigermassen verständlich ist und einen ordentlichen Bezug zum Inhalt hat. Heute darf ich sagen: Ich habe absolut recht gehabt! Konsequenterweise würde ich dieses Buch mit meiner Frau in den Urlaub schicken – ohne Bedenken: „Just Ride“ von Grant Petersen.

Just Ride
Fahr einfach. Na los!

Der Titel sagt eigentlich schon sehr viel über das Buch. Er ist Einleitung, Zusammenfassung und Ausblick zugleich. Ausserdem ein Ersatz für mindestens zehn Jahrgänge „Tour“ und „Bike“ zusammen oder eine günstige Alternative zu einem Dutzend Sessionen beim Psychiater.

Und es kann noch viel mehr, als einem diese grosse Weisheit mit auf den Weg geben: Just Ride. Es kann Überzeugungen über den Haufen werfen, Weltbilder auf den Kopf stellen, Geld sparen, Schmerzen lindern, Erlebnisse vermitteln, unterhalten oder körperliche Aktivität auslösen. Das Buch kann sicherlich polarisieren mit seiner Konsequenz und seinen unkonventionellen Wahrheiten – wo es denn Wahrheiten sind. Grossartige Denkanstösse sind es allemal.

Grant Petersen deckt in seinem Buch ganz viele Themen rund ums Velo und das Velofahren ab: Equipment, Health, Safety, Attitude, heisst es deshalb im Untertitel: Ausrüstung, Gesundheit, Sicherheit, [innere] Haltung. Zentral ist in seinem Buch der Begriff des „Unracers“. Unracer sind alle, die nicht ihren Lebensunterhalt verdienen müssen, indem sie möglichst schnell im Ziel sind. Die also keinen grossen Aufwand treiben müssen, um Sekunden oder Watt oder Gramm einzusparen, die sie den Sieg kosten könnten. Professionelle Rennfahrer haben komplett andere Ansprüche an Fahrrad, Bekleidung, Training oder Ernährung. So banal diese Aussage ist: sie scheint eines der bestgehüteten Geheimnisse unter Velofahrern zu sein. Anders lässt sich nicht erklären, wie viele Rennvelos und Mountainbikes verkauft werden und wie sehr diese den Modellen der Professionals gleichen. Das zieht sich durch vom Karbonrahmen über die Systemlaufräder zur elektronischen Schaltung. Bei der Ausrüstung dasselbe. Dabei ist es durchaus kein schöner Anblick, wenn sich wohlhabende Midlife-Crisis-Patienten bei ihrer monatlichen Rennradausfahrt in eine Wursthaut von Assos zwängen, weisse Rennschuhe an den Füssen. Uäch. Von industriefinanzierten Hochglanzradmagazinen, Powergels und leistungssteigernden Mitteln für Feierabendrennfahrer gar nicht zu reden.

„Just Ride“ jedenfalls wendet sich an Velofahrer, die nicht hochleistungsmässig Rennen fahren, sondern das Velo als Transportmittel, Reisegefährt oder Sportgerät nutzen. An Unracers eben. Also ziemlich an die ganze Bevölkerung, auch wenn sich davon sicher die Hälfte der Velofahrer nicht angesprochen fühlen mag. Dabei könnten sie alle Unmengen an Geld, Zeit und Energie sparen und auf nützlichere Dinge wie Spass, Sicherheit, Komfort und Spass (absichtliche Wiederholung, danke für den Hinweis) verwenden. Wie das geht, steht in „Just Ride“.

Hier ein paar von Petersens Thesen und Tipps, natürlich sehr vereinfacht:

Wer ein wenig was von Fahrtechnik versteht, braucht keine Federung. Er fährt um Hindernisse herum statt über sie drüber. Der rechte Reifendruck ist Federung genug.

Selbst Profis ziehen die Pedale nicht hinten hoch; das eine Bein behindert bloss das andere etwas weniger als bei weniger trainierten Fahrern. Eine stampfende Tretbewegung ist deshalb am effizientesten.

Klickpedale sind deshalb völlig unnötig. Wer sie benutzt, braucht nach dem Absteigen auch noch ein extra Paar Schuhe.

Es braucht weder spezielle Socken noch Unterhosen zum Velofahren.

„Technische“ Textilien können nie halten, was sie versprechen – mit gewöhnlicher Alltagskleidung lassen sich fast alle Bedürfnisse des Radfahrers abdecken, und für den Rest ist Wolle am besten.

Nähert sich auf der Strasse ein Auto von hinten, macht man rechtzeitig einen kleinen Schlenker, damit der Lenker denkt, man sei ein Anfänger und etwas besser aufpasst.

Helme nützen nicht sehr viel, und ein Helmobligatorium senkt die Anzahl Velofahrer. Am sichersten ist es umgekehrt, wenn möglichst viele Velofahrer unterwegs sind.

„Just Ride“ enthält auf 212 Seiten 89 Kapitel von einer halben bis vier Seiten Länge, angeordnet in vier Teilen: Fahren, Bekleidung, Sicherheit, Gesundheit und Fitness, Zubehör, Wartung, Technisches und Velosophie. Mein persönlicher Liebling ist Nummer 69, „The Weight Ruse“ (in etwa: Der Trick mit dem Gewicht). Da steht unter anderem, dass in den 70ern in einem Forschungslabor im Auftrag eines Veloherstellers untersucht wurde, in welchem Mass die Reduktion von Gewicht am Rad zu einem Gewinn an Geschwindigkeit führt. Die frohe Botschaft: sechs Kilo Gewichtsersparnis machen mich eine Meile pro Stunde schneller. Wow. OK, da müssten nun noch Randbedingungen, Versuchsanordnung und Lufttemperatur definiert werden, aber schon wenn nur die Grössenordnung stimmt, wirft das doch ein hübsches Licht auf die karbongetriebene Gewichtshysterie in der Veloszene.

Zwar sind die Ansichten des Autors nicht immer nur von Praxisbezug durchsickert, sondern auch mal vom Drang zum Unkonventionellen, wenn nicht sogar Schrulligen (Lenkerband mit Schellack bepinseln!). Weil er aber auch diese Kapitel mit ausreichend (Selbst-)Ironie und Humor schreibt, nimmt ihm das keiner übel. Lernen kann man auch da was.

Es ist jetzt aber nicht so, dass es sich bei Grant Petersen um einen Technikskeptiker oder ahnungsfreien Nörgler handelt. Er hat 1994 seine Firma Rivendell Bicycle Works gegründet und baut in Walnut Creek, Kalifornien, Stahlrahmen und etwas Zubehör nach der im Buch beschriebenen Philosophie. Auf seiner Website kann man übrigens eine Axt kaufen. Wie praktisch für eine Velotour ins Outback!. Die Rivendell-Bikes sind für das europäische Velofan-Auge gewöhnungsbedürftig: irgendwie altmodisch, brav, an den französischen Tourenrädern der 1920er-Jahre orientiert.

Alles in allem führt das Buch seinem Leser vor Augen, wie sehr wir in der Wohlstandsgesellschaft durch Werbung, Medien und Vorbilder beeinflusst werden –in vielen Bereichen des alltäglichen Lebens – und wie dies das Velofahren unnötig kompliziert gemacht hat. Andere Thesen erscheinen nicht simpel, sondern fast reaktionär. Und dann gibt es noch die revolutionär anmutenden Erkenntnisse, bei denen man sich am Kopf kratzt und sich fragt, warum einem das denn nicht schon früher jemand gesagt hat.

Natürlich fehlt auch ein Test nicht: Racer or Unracer? Die zehn Fragen nach der Lektüre objektiv zu beantworten, ist etwa so schwer, wie aus einem Popkonzert ohne Ohrensausen rauszukommen. Darum: Test vorher und nachher machen!

Eines der wenigen Bücher, das ich zweimal gelesen habe – und vielleicht auch noch ein drittes Mal lesen werde. Wenn ich bloss Zeit hätte, aber ich fahr ja ständig Velo.

Grant Petersen: Just Ride. A Radically Practical Guide to Riding Your Bike. Workman, New York, 2012, ISBN 978-0-7611-5558-4 (Leider nicht auf Deutsch erhältlich.)

 

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