Ist das Corona- ein Velo-Virus?

Es ist schon wahr: Alles hat zwei Seiten im Leben. Der Mond! Der Flachbildschirm! Die Briefmarke! Der Flyer vom Pizzakurier! Nichts und niemand ist nur gut oder nur schlecht, obwohl ich persönlich hier eigentlich gern ein paar Ausnahmen erwähnen würde. Meine Kinderstube und meine kopflastige Erziehung verbieten es mir aber, Namen zu nennen. Und, wer weiss, vielleicht möchte ich in mittlerer Zukunft ja doch wieder einmal in die USA einreisen.

A propos USA: die sind nun offenbar aus dem Gröbsten raus mit dem Coronavirus, egal, was Anthony Fauci und die Statistik behaupten mögen. Jedenfalls hatte kürzlich die halbe amerikanische Bevölkerung ausreichend Energie, um sich unheimlich empören, als die Velo-Enthusiasten von Rivendell Bicycle Works in Walnut Creek, Kalifornien (richtig, das ist die Firma von Guru Grant Petersen) in ihrem Online-Store T-Shirts und Aufkleber mit der Flagge der selbst erfundenen „Reunited States of America“ anboten:ReunitedStates

In dieser Interpretation des Sternenbanners wurden einzelne der fünfzig Sterne durch andere Symbole ersetzt, was den Wunsch nach der Inklusion aller Gruppen in der US-Gesellschaft symbolisieren soll. Es braute sich sofort ein Shitstorm gegen Rivendell zusammen, da sich nach eigener Aussage viele Christen von dieser Flagge aus- und nicht eingeschlossen fühlen, und ganz viele US-Bürger ertragen ja generell kein Fältchen in ihrer Flagge. Nun denn. Rivendell liess sich zum Glück nicht einschüchtern, machte munter weiter und besorgte Nachschub, denn die Sachen gingen schnell weg. Die Reaktionen, zum Beispiel auf Instagram, sind erhellend, was den Zustand der US-Gesellschaft betrifft.

Aber zurück zum Thema: Auch eine Plage wie die gegenwärtige Pandemie wegen dem neuen Coronavirus hat ihr Gutes. Das Virus im engeren Sinne hat nicht nur zwei Seiten, sondern auch noch eine ganze Menge Zäpfchen. Das wissen wir dank eines Grafik-Studios, welches zu Beginn der Seuche irgendwo von irgendwem beauftragt worden ist, dem Teufel ein gesellschaftsfähiges Gesicht zu verpassen, also eigentlich ein Corporate Design:

Coronavirus
(Und ich dachte mir noch: Wow, was diese Mikroskope heutzutage können!)

Ohne diese Illustration würde niemand das Virus näher kennen, weil mit 0.4 % ja nur ein relativ geringer Teil der Schweizer Bevölkerung bisher damit infiziert worden ist. Und nur was man kennt, vor dem schützt man sich auch.

Was hat denn das Coronavirus für die Welt des Fahrrads für eine Bedeutung? Gibt es vielleicht etwas an dieser Pandemie, was das Erlebnis Velofahren oder uns Velofahrende nachhaltig beeinflusst? Mehrere Bereiche kommen in Frage, sagt die Indizienlage.

Erstens: Unser Mobilitätsverhalten

Eine Studie der ETH Zürich belegt, dass im öffentlichen Verkehr die Frequenzen mit dem Beginn des Lockdowns zusammenfielen. In der Folge nahmen stattdessen die anderen Verkehrsträger an Bedeutung zu, mit Abstand am stärksten die des Velos. Bikesharing-Systeme verzeichneten fürstliche Zuwachsraten (50 % in Zürich).

Die Menschen wollten sich unter Woche vor dem Virus schützen und fuhren deshalb Velo. Am Wochenende hatten sie einen unbändigen Bewegungsdrang deshalb Velo. Es machte aber auch einen Heidenspass, auf den vom Lockdown leergefegten Strassen zu radeln, als ob die Siebziger zurück wären mit ihren autofreien Sonntagen.

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Zweitens: Die Infrastruktur

Solches Verhalten braucht Platz, und in vielen grösseren Städten wie Berlin oder Paris reagierten die Behörden rasch und pragmatisch. Sie schufen Platz für all die Quereinsteiger, indem sie unbürokratisch Pop-Up-Radwege von den Auto-Fahrbahnen abzwackten oder müffelnd herumliegende Radweg-Projekte im Eilverfahren vorantrieben. London sperrte Autos aus Teilen seiner City aus. Vermutlich staunten die Planer selber, wie flott das plötzlich voranging. Wir mit ihnen!

Pop-Up-Radspur, Berlin-Kreuzberg, Hallesche Ufer, 31.3.2020
Pop-Up-Radweg in Köln. Nicht in der Schweiz. (Bild: bikecitizens.net)

Drittens: Die Industrie

Wenn viele Menschen, Lemmingen gleich, plötzlich Velo fahren wollen, brauchen sie dazu neben geeigneten Strassen und Wegen vor allem eines: ein Velo. Es kam zu Lieferengpässen, das E-Bike boomte noch mehr als zuvor. Der französische Staat griff seinen Bürgern unter die Arme, indem er ihnen 50 Euro für Fahrrad-Reparaturen schenkte, die Stadt Basel prüft dasselbe. Kaufanreize durch den Staat und Arbeitgeber werden diskutiert. Es wird gemunkelt, Tesla prüfe den Bau einer Mega-Velofabrik. Auch Reparaturen fallen seit Beginn der Pandemie haufenweise an. Für die Velomechaniker war es ein schöner Moment, als ihre Dienstleistung vom Schweizer Bundesrat als systemrelevant eingestuft wurde. Das erlaubte es ihnen, während des Lockdowns ihre Werkstätten offen zu halten. Etwas Anerkennung für ihre Arbeit, die sie zu lächerlichen Stundenansätzen verrichten müssen.

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„Ihr seid systemrelevant! Freundeidgenössischer Gruss, euer Bundesrat“

Viertens: Unser Denken

Huch, wir wurden ja plötzlich flexibel bei der Wahl unseres Verkehrsmittels! Wir befragten eher mal unseren Verstand statt unser Langzeitgedächtnis wenn es um die Entscheidung ging, welches Vehikel uns auf dem Arbeitsweg den besten Mix aus Schnelligkeit, Sicherheit, Komfort und Ökonomie bot, wie wir uns am Wochenende möglichst viel Spass und Bewegung gleichzeitig verschaffen könnten. Im Lockdown wurde Velofahren in der Freizeit zu einem subversiven Akt!

Gehirn

Fazit

Offenbar haben ein paar Wochen Lockdown geschafft, was mehrere Jahrzehnte Propaganda für Umweltschutz und Verkehrswende zugunsten lebenswerter Städte nicht geschafft haben: Viele Menschen nutzen aufgrund sachlicher Abwägung das Velo als Alltagstransportmittel. Das könnte die Akteure jener Propaganda nun durchaus zum Verzweifeln bringen. Muss es aber nicht: die Pandemie ist ja noch nicht vorüber. Heute von deren Ende zu sprechen, ist in etwa so sinnvoll, wie spezielle öffentliche Toiletten für Ausserirdische zu planen.

Das bedeutet nämlich, dass noch ganz viele weitere Menschen die Vorzüge des Velos erkennen werden. Ju-huu! Entsprechend muss diese Zeit genutzt werden, um solche Pop-up-Infrastruktur zu vermehren und, besser noch, permanent zu machen, und noch viel besser: mehr direkte, bequeme, schöne und sichere Radwege für immer zu bauen. Damit das geschieht, müssen wir als Velofahrer Druck machen: Leserbriefe schreiben, Petitionen lancieren, von Städten und Arbeitgebern Velo-Massnahmen verlangen und, am einfachsten und wirksamsten: Ganz viel Velo fahren. Um allen zu zeigen, wie das so ist, wenn plötzlich viele Menschen Velo fahren. Damit die Behörden das erkennen, unsere Mitmenschen es verstehen, und, ganz wichtig, wir selber es verinnerlichen und nie wieder vergessen. Just ride!

JustRide
Grant Petersen knows how it goes. ISBN-Nr. 978-0-7611-5558-4

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