Fahrrad: Das verkannte Genie

Die Klage ist nicht neu, schon gar nicht in diesem Blog: Das Velo ist ein verkanntes Genie. Wer öffnet uns aufgeklärten, digitalisierten, technikaffinen, effizienzbesessenen, zeitsparenden und selbstoptimierten Menschen endlich die Augen für diese banale Tatsache?

Ein Genie ist das Fahrrad darum, weil es ein Geschenk der Technik-Götter ist, das uns Sterblichen unser Leben auf mannigfaltige Weise erleichtert. Es kostet wenig, bringt uns unendlich viel schneller und mit weniger Energieaufwand dorthin, wo wir hin wollen oder müssen, als unsere Füsse das können. Es braucht quasi keinen Platz, wenn wir dort (wo wir hin wollen oder müssen) ankommen, das Abstellen auf dem bisschen Platz kostet in der Regel nichts, und auftanken müssen wir es auch nicht, denn essen tun wir sowieso, und das reicht, um das Velo anzutreiben. Nicht einmal eine Fahrbewilligung in Form eines spottbilligen amtlichen Aufklebers braucht das Velo! (Nun gut, es wäre auch frivol bis vermessen, für die heute in der Schweiz verfügbare Velo-Infrastruktur eine Benutzungsgebühr zu erheben. Da könnte man genauso gut von einer Kuh in der S-Bahn ein Ticket verlangen, obwohl dort nicht einmal Stroh oder ein Güllegraben (ähm… Jauchesammelkanal?) vorhanden ist in den üblichen Waggons!

Es dunkelt langsam draussen, weshalb die Auflistung von Vorteilen des Fahrrads an dieser Stelle abgebrochen werden muss.

Verkannt ist das Velo, weil die Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer allen Ernstes glauben, das Fahrrad sei ein Sportgerät, so wie ein Frisbee, ein Koffer voller Bocciakugeln oder eine Langhantel. Gewiss kann man auf einem Velo Sport treiben, wenn man es einigermassen schlau anstellt. Aber ist es deswegen ein Sportgerät? Klar kann ich ein Rindvieh in einen Zug stellen, aber ist die Eisenbahn deswegen ein Kuhstall? Eben!

In letzter Zeit häufen sich die Indizien für dieses tragische Missverständnis. So bietet ausgerechnet die nationale Velo-Lobby-Organisation Pro Velo Schweiz, Organisatorin der sehr populären Velopendler-Challenge bike to work, neuerdings als Motivation der potenziellen Teilnehmerinnen ein

an in seinem Shop – inklusive Rennhose. Die Aussage ist klar: Wer mit dem Velo zur Arbeit fährt, braucht ein Renndress dafür, sonst versteht er gar nichts und gibt sich darüber hinaus der Lächerlichkeit preis. Echt jetzt?

Ein weiterer Hinweis ist eine Umfrage, welche das Marktforschungsinstitut GFK im Auftrag eines Herstellers von Velomotoren durchgeführt hat. Der am häufigsten angegebene Grund, Velo zu fahren, ist der Sport. Immerhin ist stolzen 48 % der Befragten aufgefallen, dass das Velo unter bestimmten, aber durchaus nicht exotischen Umständen Zeit spart. Hoffnung sei aber erlaubt, denn die zweithäufigste Nennung ist der Spass, und wie kann man NICHT mit einem Spassmobil zur Arbeit fahren wollen? (Naheliegendste Antwort, natürlich, leider, korrekterweise: wenn es keine geeignete Infrastruktur dafür gibt.)

Quelle: velojournal, Ausgabe 1/2023

Doch was sagt der Markt? Welche Räder werden tatsächlich gewünscht? Weil die mündige Konsumentin informiert ist und sich auf den Strassen umschaut, legt sie ein durchaus rationales und konsequentes Kaufverhalten an den Tag – sie kauft in 60 % der Fälle ein Sportvelo, wie die Zahlen des Branchenverbands velosuisse für das Jahr 2020 zeigen:

In der Schweiz verkaufte Velos nach den zwei Haupt-Typen.

Aber auch der Markt hält gute Neuigkeiten für uns bereit. Im Jahr darauf haben die Alltagsvelos ganz schön Boden gut gemacht: plus zwei Prozentpunkte!

Man darf so richtig gespannt sein auf die Zahlen für das Jahr 2022, die sicherlich demnächst veröffentlicht werden, sobald alle leeren Kartons sortiert und gezählt sind. Bis dahin geben die detaillierten Zahlen aus den Vorjahren einige interessante Einblicke.

Zurück zur Ausgangsfrage: Wenn die Technik-Götter uns ein billiges, einfach zu wartendes, schnelles und robustes Fortbewegungsmittel schenken – warum benutzen wir es dann bloss, um unser Herz-Kreislaufsystem oder unser Ego zu trimmen? Ist das nicht ein Sakrileg? Darauf deutet zumindest der diesjährige europäische Winter hin, der sich, wie der ganze Klimawandel, wie eine göttliche Strafe anfühlt.

Anders gefragt: was kümmert uns die Frage überhaupt, und ist dieser Artikel eigentlich zu gar nichts nütze? Antwort: nein! Beziehungsweise: vielleicht, aber die Welt wäre doch eine bessere, wenn mehr Leute mit dem Velo herumfahren würden, statt unsere Städte mit immer grösser werdenden Autos zu verstopfen. Immerhin leben je nach Quelle bis zu drei Viertel aller Menschen in Städten. Wer allein zur körperlichen Ertüchtigung mit dem Velo herumfährt, verbessert die Städte aber nicht, wenn er danach mit dem Auto zum Einkaufen rollt. Dank all der Velo-Gadgets, welche die Autoindustrie inzwischen anbietet, verursacht das sportliche Velofahren sogar zusätzlichen Verkehr, weil es so leicht geworden ist, Velos in grosser Zahl von zu Hause an den Waldrand zu karren:

Eines muss klargestellt werden: Dieser Post will überhaupt niemandem das Velofahren in der Freizeit madig machen! Wer ab und zu velopflock liest, weiss um unsere Leidenschaft für den Radsport. Wir machen das sogar selbst! Gerade Jugendliche bauen über Radrennen oft eine lebenslange Beziehung zum Velo auf. Es geht hier nur darum, dass das Velo in der wohlhabenden Schweiz noch immer nicht im Alltagsverkehr angekommen ist – und ebenso wenig in den Köpfen derer, die eigentlich direkte Radwege, sichere Querungen und Kreuzungen oder geräumige Abstellanlagen an geeigneten Stellen bauen sollten. Das Veloweggesetz ist ein grosser und unverzichtbarer erster Schritt in diese Richtung – mehr aber auch nicht. Und solange alle nur von Mountainbikes, Scheibenbremsen und Karbon reden, wird sich daran auch nichts ändern.

Aber wie immer wollen wir euch nicht mit so trüben Gedanken in den Alltag zurücklassen. Eine liebe Freundin, deren Haushalt bei jedem meiner Besuche kleine Wunder für mich bereithält (Lustige Videos! Faszinierende Bücher! Berauschende Rezepte!), hat mir ein Bild als perfekte Ergänzung zum letzten Post geschickt. Es stammt aus dem Buch Grafiken für eine bessere Welt von Captain Futura und bestätigt, dass die Polizei gelegentlich blinde Flecken im Gesichtsfeld hat, wenn es um das Velo geht:

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