Jahresrückblick, frevelhaft verfrüht.

Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben“, heisst es. Abgesehen davon, dass ich nie auf den Gedanken käme, einen Tag zu loben – das hast du jetzt aber grossartig gemacht, mein lieber Tag! So eine schöne Velotour haben wir gehabt zusammen, und das alles nur dank dir! Weiter so, mein Freund! – frage ich mich, was die Konsequenz von solch frevelhaftem Tun wäre. Könnte der Tag noch in die Hose gehen, wenn ich ihn schon um viertel vor vier am Nachmittag als toll bezeichne? Ich glaube: nein, könnte er nicht wirklich, denn was man hat, das hat man. Anschlussfrage: Darf man denn umgekehrt den Tag schon vor dem Abend zur Sau machen, wenn einem der Sinn danach steht? Falls nein, wie sieht es mit dem Jahr aus? Kann ich es schon vor Silvester „nicht recht begeisternd“, „lau“ oder gar „verkackt“ schimpfen? Denn dazu habe ich grad ein starkes Bedürfnis. Ich versuche das jetzt einfach mal. Wenn ihr in den nächsten vier Wochen hier keinen weiteren Post vorfindet, wisst ihr jetzt, woran das liegen könnte.

Das Risiko, dass mich zur Strafe ein Blitz trifft, ist überschaubar, denn erstens gibt es um diese Jahreszeit in diesen Breitengraden (Schweiz) nur selten Blitze, und zweitens ist das Jahr, was das Radfahren anbelangt, jetzt sowieso schon weitestgehend gelaufen, weil immer wieder Schnee fällt und Glatteis lauert. Ich mache also gar nichts Verbotenes.

Stand heute habe ich ein sehr durchzogenes Velojahr hinter mir, und wer möchte kann ein paar Impressionen von den besseren Momenten auf dem Instagram anschauen. Es ist furios gestartet, das Jahr, mit der Befahrung einer verwesenden Autobahn, einer Tour durch die Poebene in Norditalien und einem Besuch an der Spezi (-alradmesse) gleich hinter der deutsch-schweizerischen Grenze in Lauchringen. Das Arbeitspferd wurde nach vorne ausgebaut. Spätestens ab dem Frühsommer begann sich das Jahr dann in etwa gleich zu entwickeln wie ich mich auf einer sportlichen Radtour: Ambitiöser Beginn, und danach schwächeln, hadern und ins Ziel schleppen.

Zum einen fand ich ab Juni kaum mehr Zeit zum Radfahren: viel Arbeit, viele Anlässe (tolle und weniger tolle, aber wer kann sich seine Familie schon aussuchen?) und immer wieder schlechtes Wetter just am Wochenende, als ob die Regenwolken immer nur Wochenendschicht gehabt hätten. Und bin ich der einzige, dem aufgefallen ist, dass die Dämmerung dieses Jahr schon anfangs September um sechs Uhr einsetzte? Besteht da ein Zusammenhang zum Klimawandel? Ich stehe dank meines Alters ja über dem Kilometersammeln, aber ab und zu ein bisschen pedalen wäre schon schön gewesen.

Und dann war da noch ein unglaubliches Pech. Ich hatte noch nie so viele technische Defekte an meinen Velos wie in diesem Jahr. Einmal hätte ich beinahe dem Velofahren abgeschworen, als ich auf drei von vier aufeinanderfolgenden Radtouren zu Fuss oder mit dem öV nach Hause musste: Ein Platten am Gravelbike wegen einem übersehenen Querabschlag im Wald (auf dem Gravelbike habe ich nie Werk- oder Flickzeug dabei), ein gerissenes Schaltkabel (seit wann reissen Schaltkabel, bitteschön?!) und eine gebrochene Speiche am Rennrad. Zum Glück waren gleich danach Sommerferien, und ich war etwas abgelenkt. (Durch massive technische Defekte am Auto, aber das ist eine andere Geschichte, die ohne Schmerz zu erzählen ich noch nicht in der Lage bin.)

Zurück aus den Ferien war ich wieder guter Dinge und voller Tatendrang und glaubte, den Passo dello Stelvio herausfordern zu müssen. Die Mutter aller Qualen, ganz viel Irrsinn in ganz viele anmutige Haarnadelkurven gegossen. Die erste davon war noch längstens nicht in Sicht, als einige Kilometer hinter Prado eine Speiche brach. Nur meinem schnellen und geistesgegenwärtigen Handeln und zwei schweigsamen Südtiroler Mechanikern ist es zu verdanken, dass ich nur eine knappe Stunde später einen erfolgreichen zweiten Anlauf nehmen konnte. Natürlich war ich dann nicht der erste auf der Passhöhe:

Da kommt man übrigens nur mit einem harten Schädel hoch:

Und dann war es plötzlich Herbst, ich hatte plötzlich Grippe und plötzlich brach eine weitere Speiche. Danach brach auch noch der Schlüssel zum Schloss am Arbeitspferd entzwei. Dumm war, dass er in dem Moment gerade im Schloss drinsteckte. Noch dümmer war, dass das Schloss in dem Moment sowohl um das Oberrohr des Velos als auch um eine Verstrebung des kleinen Festzeltes hinter meinem Büro gewickelt war, welches temporär als Veloparking fungiert. So stand ich an einem Freitagabend dort, und statt nach Hause zu gleiten und mich auszuruhen, schaute ich dumm aus der Wäsche.

Am Samstagmorgen weihte ich meinen halbwüchsigen Sohn in meinen Plan ein, mit seiner Hilfe mein eigenes Fahrrad zu stehlen. Denn das war es in seinen Augen: Diebstahl. Da halfen meine Beschwichtigungsversuche, dass ich die Kaufquittung und eine Sammlung von Fotos von mir auf meinem Velo und den abgebrochenen Schlüssel UND den Ersatzschlüssel mitnehmen würde, überhaupt nichts. Es ist natürlich wunderschön für einen Vater, zu sehen, wie sein Kind Charakterfestigkeit und Achtung für das Recht demonstriert. Ein bisschen Autoritätsgläubigkeit, situativ angewandt, ist aber auch nicht falsch. Wir holten bei einem Freund eine Trennscheibe und fuhren mit einer grossen Kabelrolle in der Hand im Postbus in die Stadt. Zwei Schutzbrillen hatte ich auch dabei, das hätte professionell gewirkt, falls tatsächlich jemand die Lauterkeit unseres Handelns in Zweifel gezogen hätte. Bei den Leuchtwesten zog ich die Grenze. Die Trennscheibe machte einen Höllenlärm, aber nur handgestoppte 4.7 Sekunden lang, dann war ein sauberer Schnitt gemacht:

Das war Mitte November, und seither ist fast alles glatt gelaufen zwischen mir und meinen Fahrrädern. Ich habe sie ja auch weitgehend in Ruhe gelassen.

Was mich in dieser überaus schweren Zeit nur am Leben erhalten hat, werden Sie sich nun fragen. Zurecht! Das Geheimnis mag auf den ersten Blick verblüffen: Es war das Velofahren! Keine epischen Passfahrten, verwegenen Mountainbiketouren oder abenteuerlichen Radreisen. Nein, es war die tägliche Fahrt zur Arbeit, bei Wind oder Wetter oder Dunkelheit, die mich mit meinem Schicksal versöhnte. Die Abwechslung und die tägliche Bewegung. Die kurzen Wettrennen mit dem Herdenschutzhund, die wir letztes Jahr begonnen hatten. So hatte ich das gute Gefühl, stets unterwegs zu sein, auch wenn es nicht zu vielen Wochenend-Abenteuern reichte.

Sie finden, das war jetzt Jammern auf hohem Niveau? Aber absolut, und wie! Wer sich häufig mit Velos beschäftigt – Fahren, reparieren, putzen, angucken, darüber lesen, darüber schreiben, kaufen und verkaufen undsoweiter – der IST auf hohem Niveau unterwegs: Schnell, günstig, gesund, praktisch und – vor allem – mit ganz viel Spass. Da kann es einen schon ein bisschen runterziehen, wenn plötzlich eine Panne zuschlägt. Aber wie es so ist beim Velofahren: Vorwärtsschauen und weitertreten! Über den Winter werde ich mein Gravelbike zu einem Reiserad umbauen und es im kommenden Sommer ganz lange probefahren, so in etwa um die halbe Welt. Wenn nichts dazwischenkommt, natürlich.

3 Gedanken zu “Jahresrückblick, frevelhaft verfrüht.

  1. WOW (diesmal kurz). Autofahren? (hab ich mich verkuckt?) War nicht noch die Rede eines Diebstahls des Fahrrades im letzte Bericht? Viel Pech in einem Jahr; wohl wahr. Aber die Zweisamkeit mit Deinem Jungen, der viel lernt, Die vertraut und Glück erlebt? Das sind die wirklichen Werte, zu denen ich Dich beglückwünsche… und einem Lese-Fan (das bin ich), denn ich liebe Deine Geschichten! Vielen Dank

  2. Schaltseile reißen bei Shimnao-STI nach längerer Nutzung. Liegt an dem Seilweg im Hebel. Betrifft alle Modelle. Shimano findet es vermutlich geil. Ist mir mit Campa oder SRAM noch nie passiert.

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