„Mache dir deine Kritiker zu Freunden“, sagte vor Jahrzehnten mein Deutschlehrer zu mir. Ich fand den Ratschlag einleuchtend und praktisch: Konstruktive, sachliche und begründete Kritik bringt dich immer weiter, also bemüh dich um deine Kritiker, statt ihnen nachts aufzulauern. Ausserdem, so scheint es mir heute mit einer gewissen Distanz, hat man als Pubertierender sowieso mehr Kritiker als Freunde. Der Ratschlag war also leicht umzusetzen und konnte in meinem sozialen Umfeld so etwas wie ein Gleichgewicht schaffen. Soweit die Geschichte. Was aber, wenn umgekehrt ein Freund zum Kritiker wird – oder gar ein Familienmitglied?
„Ich habe deinen letzten Blogbeitrag gelesen“, sagte mein Sohn gestern Abend zu mir. „So leid es mir tut, aber da bist du in einer kleinen Minderheit“, gab ich zurück, „Wie fandest du ihn denn so?“ Es kommt selten vor, dass eins unserer Kinder diesen Blog liest. Eigentlich war es das erste Mal. Welches Kind interessiert sich schon dafür, was die Eltern nach Feierabend so machen? Ich freute mich ein bisschen.
„Ich finde ihn [nicht gut].“ (Adjektiv von der Redaktion sinngetreu geändert). Ich fragte nach dem Grund, und er erklärte mir, dass die Argumentation und die Aussage in dem Text zwar richtig seien (kurz zusammengefasst: es ist ungerecht, wenn Velofahrende von staatlich bezahlten Stellen aufgefordert werden, Leuchtwesten tragen, die Autofahrer aber von niemandem zu vorsichtiger Fahrweise angehalten werden). Einen wichtigen Punkt hätte ich aber weggelassen. „Ach ja?“ sagte ich und war überzeugt, nicht gereizt zu klingen, „und das wäre, mein Sohn?“ „Was ist mit den Velofahrern, die nicht nur keine Leuchtweste tragen, sondern auch keine Beleuchtung am Velo haben? Die sieht man auch als vorsichtiger Autolenker nicht rechtzeitig auf einer Strasse in der Nacht, und wenn’s kracht, muss man ins Gefängnis.“ „Da muss ich dir zustimmen“, antwortete ich mit väterlich-getragener Stimme, denn diese Tatsache ist leicht zu beweisen und ebenso leicht zu verstehen. Ich musste ihm ausserdem unbedingt zustimmen, weil er mich sonst noch länger vom Lesen abgehalten hätte.
Er blieb trotzdem stehen, also erklärte ich ihm umgehend, dass der Blogbeitrag sich der Asymmetrie in der Verteilung der Verantwortung im Strassenverkehr annehmen würde und nicht der Fehler, welche Velofahrende so im Allgemeinen begehen, was natürlich zweifellos auch vorkomme, und ich würde beispielsweise das Velofahren auf dem Trottoir ebenso verurteilen wie das Velofahren ohne ausreichende Beleuchtung, aber eben: das Thema des Beitrags sei ein anderes gewesen.
Das sture Kind blieb weiter stehen. „Aber die Hälfte der Velos ist ohne Licht unterwegs, wenn es dunkel ist, und du kritisierst nur die Autos. Das ist auch nicht gerecht.“ Ich verzichtete darauf, ihn nach der Datengrundlage für seine ungeheure Behauptung zu fragen, denn das wäre nicht stufengerecht, dafür zeitraubend gewesen. Stattdessen sagte ich, der Situation angepasst: „Bettzeit! Lass uns morgen weiterreden!“ „Bettzeit? Ich bin fünfzehn, und es ist halb acht! Was läuft bei dir? Immer dasselbe mit euch, nie wollt ihr reden, ihr tut nur immer so!“ Verärgert verzog er sich in sein Zimmer um das zu tun, was Teenager so tun, wenn sie in ihrem Zimmer sind, und davon habe ich nur eine vage Vorstellung. Zu meiner Zeit gab es noch kein Internet, und Kompiuther war ein Codewort für ein Spielzeug, das nur Kinder begüterter Familien besassen. Hätte er das Gespräch nicht abgebrochen, hätte ich es getan, wo er doch gerade seine Mutter und meine Frau beleidigt hatte, ohne dass sie was mit der Angelegenheit zu tun gehabt hätte.
Wenig später begann ich zu zweifeln. Hatte ich zu wenig Geduld gehabt? Hätte ich besser diskutiert statt gelesen? Er hatte mich doch kritisiert, und Kritiker sollte man sich doch zu Freunden machen, siehe oben! Andererseits halte ich nichts davon, Freund meiner Kinder zu sein. Ich bin ihr Vater und pflege als solcher ein durchaus inniges Verhältnis zu ihnen (und ich hoffe doch, sie pflegen mich dann im Alter einmal ebenso durchaus, aber das ist eine andere Geschichte).
Nun bin ich ja nicht so stur wie mein Kind, und darum schreibe ich nun hier, was ich gestern Abend nicht zu meinem Sohn gesagt habe: Er hatte natürlich vollkommen recht. Es gibt wirklich viel zu viele Velofahrende – je nach Quelle gegen die Hälfte! – die nachts auf öffentlichen Strassen fahren mit Velos, an denen keine einigermassen sichtbare oder gesetzeskonforme Beleuchtung angebracht ist, weder hinten noch vorne. Das ist gefährlich und grobfahrlässig und sollte auch gebüsst werden. Ein blinkendes Fünf-Franken-Lämpli erfüllt die gesetzlichen Anforderungen übrigens nicht. Ein solches darf nur in Ergänzung eines stehenden roten Rücklichtes verwendet werden. Darüber hinaus sind Reflektoren am Fahrrad und an der Kleidung äusserst hilfreich. Heute gibt es zum Glück gut funktionierende, zuverlässige Fahrradbeleuchtung mit LED und Nabendynamo oder USB-Ladeport. Die Velos selber kommen mit zahlreichen Reflektoren, und es gibt funktionale Jacken mit ausklappbaren reflektierenden Flächen und Lüftungssystemen, mit denen man tagsüber auch in der Stadt oder auf dem Weg zu einem Geschäftstermin keine schlechte Figur macht. Ich selber benutze seit Jahren ein solches Modell und bin absolut zufrieden damit und sicher auch bestens sichtbar. Aufklärung und Sensibilisierung der Personen, die Velo fahren, ist wichtig und kann schwere Unfälle verhindern, wie dieses Video eindrücklich belegt.
So ist das.
Und Leuchtwesten sind wirklich kacke.