Die Sache ist kompliziert. Angefangen hat es so: Als pubertierender Jugendlicher begann ich, regelmässig auf freiwilliger Basis Sport zu treiben. Irgendwohin musste ich ja mit all der Energie, die in meinem stetig wachsenden Körper steckte. Natürlich wollte ich mich auch mit anderen messen, mich beweisen, wie man das in dem Alter halt so tut. Weil mir das Mich-messen aber doch nicht so recht behagte, suchte ich mir meinen Sport sorgfältig aus. Ich wählte eine Sportart, die Ende der Achtziger noch kaum einer kannte, weil mir die Aussicht auf schnellen Erfolg in so einer Disziplin einfach besser schien. Tatsächlich, so stellte sich heraus, konnte man im Kurzstreckentriathlon an den Landesmeisterschaften an den Start stellen, ohne sich erst mühsam qualifizieren zu müssen. Das Startgeld einzahlen und rechtzeitig am Start aufkreuzen reichte. Meine Karriere schien vorgezeichnet. Ich trainierte oft und mit Leidenschaft, kaufte mir sogar ein Buch über Triathlontraining, was in etwa einem Jahresabonnement bei einem Onlinecoach in der heutigen Zeit entspricht. Leider hatten ein paar andere Burschen im Land dieselbe Idee, und sie hatten mehr Talent als ich. Einmal schaffte ich es in den Sportteil der lokalen Tageszeitung, doch wenig später kam ich gleichzeitig aus dem Juniorenalter und aus der Pubertät raus. Wegen ersterem wurde meine Konkurrenz auf einen Schlag grösser und stärker. Wegen letzterem verschoben sich meine Interessen woandershin.
Ich fing an, mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten und fand, dass sie ziemlich grossen Erwartungen ausgesetzt waren. Von Seiten ihrer Lehrer, ihrer Eltern, ihrer Kameraden, ihrer potentiellen Arbeitgeber. Einige kriegten keine Lehrstelle oder schafften die Matura nicht oder verhielten sich ganz eigenartig, weil sie sich nicht mehr geliebt fühlten von ihren Eltern, wenn sie deren Erwartungen nicht erfüllen konnten. So kam es mir jedenfalls vor damals, und das Drogenelend in den Städten bekräftigte mich in meiner Auffassung. Dass junge Menschen auch noch Sport treiben sollten, bei dem es um Resultate – und damit um Erwartungshaltungen und Enttäuschung und um einen Sieger auf hundert Verlierer – ging, schien mir mehr als nur grotesk. Es kam mir zynisch und gefährlich vor. Steckte im Erwachsenwerden nicht schon genug Wettbewerb? Musste man die Kinder auch noch im Sport aufeinander hetzen? Und der Festina-Skandal war zur der Zeit noch nicht mal aufgedeckt. Doping, Drogen – wo lag der Unterschied? Das war dasselbe Mittel, um mit der harten, fordernden Realität in der Gesellschaft umzugehen, mal für Zivilpersonen, mal für Sportler. Ich fuhr weiter Rad, aber Spitzensport verfolgte ich aus Prinzip nicht mal mehr im Fernsehen, nachdem ich meine Kindheit vor der Glotze verbracht hatte, um den Giro d’Italia und die Tour de France zu sehen.
Zwanzig Jahre vorwärts, und nun ist die Geschichte wirklich kompliziert. Heute fahre ich immer noch täglich mit dem Velo zur Arbeit oder zum Einkaufen oder in die Ferien. Ich lese Zeitschriftenartikel über Velos und gucke Filme über Velos, weil das Velo das schlauste Transportmittel und überhaupt die grossartigste Erfindung der Menschheitsgeschichte ist. Daneben betreibe ich immer noch Sport auf dem Velo. Manchmal auf dem Mountainbike, am liebsten aber auf dem Rennvelo. „Rennvelo? Das ist Leistungssport! Doping! Spitzensport!“ werden Sie nun rufen, und Recht haben Sie. Es ist schon so: das Rennrad ist nicht die Krone der technischen Entwicklung des Velos, bloss weil es leicht ist, schnittig aussieht und damit Rennen gewonnen werden. Es ist nämlich schweineteuer, furchtbar unkomfortabel und unnötig unpraktisch. Trotzdem fahre ich mit Begeisterung Rennvelo, seit mittlerweile 32 Jahren und weiss nicht recht, warum. Ich nehme an, ein Psychologie-Student im zweiten Semester oder eine Barkeeperin mit ein paar Jahren Erfahrung könnte mir das erklären, aber ich tappe noch im Dunkeln. Vielleicht hat es irgendwas mit Tour-de-France-Spielen oder mit Kinderträumen zu tun, mit dem Rausch der Geschwindigkeit oder mit Abenteuer. Die Ästhetik von Wursthäuten (an anderer Stelle bereits diskutiert) ist es jedenfalls nicht. Durch die Gegend gondeln, sie bestaunen, meinen Gedanken nachhängen und für die Automobilisten mitdenken, mit denen ich die Strassen teile, all das könnte ich mit einem beliebigen anderen Velo machen. Das täte meinem Hintern erst noch weniger weh. Trotzdem fahre ich Rennvelo. Auch über Pässe. Schneller als mit dem Tourenrad, wobei der Geschwindigkeitsunterschied nicht der Aerodynamik geschuldet ist, sondern meinem körperlichen Einsatz.
Wie gesagt: ich verstehe es selbst nicht. Aber ich forsche, indem ich immer wieder Rennvelo fahre, und wieder. Und eines Tages werde ich nach einer Rennvelotour zufrieden vor dem Haus sitzen und erkennen: Es gibt keinen äusseren, übergeordneten Grund dafür. Rennvelofahren ist irrational und genügt sich deswegen selbst. Obwohl es vom Rennsport abstammt, hat es nichts damit zu tun und macht einfach Spass. Ist das nicht eine grossartige Antithese zu unserer Zeit mit ihren endlosen Ansprüchen an den Menschen, an seine Effizienz und Leistung und Entwicklung? Vielleicht nicht, aber ein ausgezeichneter Grund, weiter Rennvelo zu fahren.
Ein Gedanke zu “Ich fahre Rennvelo, weil es dafür keinen rechten Grund gibt, ausser dass es dafür keinen Grund gibt.”