Kindervelos sind keine Welpen!

Hundebabys sind zum Knuddeln. Also wirklich. Mit überproportionierten Pfoten und treuherzigem Blick tapsen sie auf einen zu, so dass man gar nicht anders kann als sie in Herz und Arme zu schliessen, wenn man eine Seele im Leib trägt. Ganz egal, was man davor seinen Kindern zum Thema „Anschaffung eines Haustieres“ gesagt hat. Das hat die Natur so eingerichtet bei den Säugetieren, damit sicher keine frischgebackene Mutter aus Mangel an Interesse oder aus Bequemlichkeit den Wurf links liegen lässt und sich einem anderen Zeitvertrieb widmet. Oder damit, falls der Mutter etwas zustösst, sich wenigstens der Vater oder ein anderes Mitglied der Herde des hilflosen Neugeborenen annimmt. Wenn das Jungtier nur herzig genug ist, wird es schon irgendeiner füttern. Kindchenschema nennt sich das glaub. (Bei den Vögeln muss das offensichtlich irgendwie anders laufen.)

Einen Moment, was hat Evolutionsbiologie mit Velos zu tun? kann man sich mit Fug und Recht an dieser Stelle fragen. Überhaupt nichts, ist die korrekte Antwort, und gerade deshalb ist das ein Thema hier. Irgendwann Ende der Achtzigerjahre haben nämlich die Fahrradbauer das Kindchenschema für sich entdeckt. Seither bauen sie Kinderfahrräder, die aussehen wie aus dem Playmobil-Katalog. Übermässig dicke Reifen, langer Radstand, dicke Rohre, bunte Farben, Kinderbuchfiguren oder Superhelden imitierend. Bei potentiellen Käufern und ihren weniger potentiellen als vielmehr realen Kindern soll der „Jööö-Effekt“ (jööö: schweizerischer Ausruf des Entzückens über etwas niedliches, zum Beispiel ein Kindervelo, das wie die berühmte Kinderbuchfigur Globi rot-schwarz karierte Hosen anhat), also der „Jööö-Effekt“ soll ausgelöst werden, damit sie ohne weitere Überlegung mit dem Velo unter dem Arm zur Kasse stürmen. Ich kenne keine Verkaufszahlen, aber ein Blick in den Veloabstellraum eines beliebigen Schweizer Mehrfamilienhauses bestätigt den durchschlagenden Erfolg dieser Strategie.

Nun ist ja nichts Schlechtes daran, einem Kind ein Velo zu verkaufen. Das Gegenteil ist der Fall, wie meistens im Leben. Bloss: Das ame Ding (damit ist das Kind gemeint) soll ja auf dem Fahrrad auch fahren können, und hier beginnt das Elend. Im Zuge der Gewinnoptimierung haben sich die allermeisten Hersteller von Kinder- und Jugendfahrrädern nämlich darauf verlegt, an die Disney- und Bonbon-Rahmen möglichst viele Komponenten aus der Erwachsenenabteilung zu schrauben. Das ist mit ein Grund für das Kindchenschema-Aussehen der Räder. Wieso extra ein Teil entwickeln, das auf einen Rahmen der Grösse 32 passt, wenn nebenan massenweise Teile für 52er-Rahmen fertig herumliegen? Also kriegen die Velos für Vorschulkinder den schmalsten verfügbaren Erwachsenen-Lenker samt Vorbau verpasst. Richtig übel wirkt sich diese Strategie aber bei Tretlagerbreite und Kurbellänge aus. Sind diese Teile zu gross, sehen die Bewegungen des fahrenden Kindes nicht nur grotesk aus, sie sind auch ineffizient und im dümmsten
Fall gesundheitsschädigend. Das Kind sitzt breitbeinig auf dem Göppel wie ein Rocker auf einer Harley-Davidson, bloss weniger entspannt, uind die Lederkluft fehlt ja in der regel
auch. Obwohl das Kind, im Sattel sitzend, nur knapp mit den Zehenspitzen den Boden berührt, schlägt sein Knie bei jeder Kurbelumdrehung gegen das Kinn. Zum Vergleich: Die Kurbel am Fahrrad, das mein Sohn (damals 1.20 m gross) im Alter von fünf Jahren von Bekannten erben konnte, misst 160 mm, die an meinem (1.90 m gross) Fahrrad misst 170 mm. Das ist kein Einzelfall. Ich habe Dutzende, wenn nicht Zehntausende Messungen gemacht. Bei der Breite der Tretlager sind die Verhältnisse ähnlich.

Bei den körperlichen Folgen von solchen Kindchenvelos können ja noch der Kieferorthopäde (ist heute ja sowieso Pflicht, ungeachtet der Zahnstellung) oder der Orthopäde helfen. Aber, und das ist viel schlimmer, dem Kind vergeht irgendwann die Lust, sich auf dem drolligen Gefährt zu quälen. Die Zahlen zur Nutzung des Fahrrades unter Kindern sprechen für sich. Die Agilität beim Lenken wird auch nicht eben gefördert durch so eine Geometrie, was Stürze wahrscheinlicher macht. Und wieso das in unserer sicherheitsversessenen Gesellschaft geduldet wird, ist noch nicht erforscht. Kurz, die Verkaufsfördeung im Fahrradhandel durch die Verwendung des Kindchenschemas verleidet der Kundschaft den Gebrauch des Fahrrads.

Das war nicht immer so. Während meiner Ferien in der Westschweiz habe ich inn einer Kammer des Bauernhauses, das wir gemietet hatten, ein verstaubtes Mädchenvelo der französischen Marke Motobécane entdeckt. Die jüngste von etwa sechs Velovignetten datiert aus dem Jahr 1992, es wurde also etwa Mitte der Achtziger gebaut. Das Velo ist hellblau-metallisé lackiert, hat 24″-Räder mit Weisswandreifen, schlanke, elegante Rohre und einen kinderschulterbreiten, grazil geschwungenen Lenker mit dem kürzesten Vorbau, der mir je untergekommen ist. Schaut man das Fahrrad von nahe an, kommt es einem irgendwie eigenartig vor, abgemagert und hochbeinig (paradoxerweise erzeugt auch das ein wenig Mitleid), weil sich unser Blick inzwischen an die oben beschriebenen Schlumpfräder gewöhnt hat. Von weitem betrachtet fällt einem aber gar nichts auf, denn man hält es für ein Erwachsenenrad, weil es wie eines proportioniert ist. Ein Kind, das darauf fährt, macht dieselben Bewegungen wie ein Erwachsener auf seinem Velo. Die Kurbel misst nämlich gerade mal 125 mm. Das Velo ist übrigens leichter als sein modernes Pendant, was der mit Gewichtsersparnis werbenden Industrie auch zu denken geben sollte.

 

Tafel 1: Schlumpfrad
Tafel 1: Schlumpfrad
Tafel 2: Damenrad
Tafel 2: Damenrad
Tafel 3: Jugendrad, wohlproportioniert
Tafel 3: Jugendrad, wohlproportioniert

Ich habe das Velo dann flottgemacht, und unsere Tochter hatte so viel Spass damit, dass sie es am Ende der Ferien mit nach Hause nehmen wollte. Reflexartig wollte ich einwilligen, denn so ein Velo macht ja doch deutlich weniger Arbeit als die Welpen auf dem Bauernhof, von denen sie ebenfalls einen haben wollte. Aber das schöne Rad mitzunehmen wäre Diebstahl gewesen. Ausserdem wollte ich das Vergnügen, auf einem richtigen Jugendrad fahren zu können, auch den Kindern von nach uns kommenden Mietern ermöglichen. Velofahrer sind eben bessere Menschen.

PS: Wer jetzt noch keine Etappe von Le Tour an der télévision mitverfolgt hat, hat den Sommer bereits verpasst. Das Einzelzeitfahren von heute Samstag ist eine Alibiübung und ausserdem nicht annähernd so spannend wie eine Bergetappe. Zut alors, aber selber schuld!

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