Nicht alles falsch gemacht.

Das Velo leidet in unserer Gesellschaft darunter, dass es von nicht wenigen Menschen ausschliesslich als Sportgerät wahrgenommen wird. Ein Velo zu fahren verwechseln deshalb viele Leute mit körperlicher Anstrengung und vermeiden es, wo immer es geht. Das ist grundsätzlich immer und überall möglich, denn es gibt ja mehr Autos als Hauskatzen in der Schweiz, und die paar Desperados, die kein Auto haben, nehmen den Bus oder das Tram. Nicht zuletzt Kinder und Jugendliche meiden immer öfter das Velo. Das zeigen Studien über das Mobilitätsverhalten immer wieder aufs Neue, zuletzt für die Schweiz der Mikrozensus Mobilität und Verkehr. Junge Menschen lassen ihr Velo für den Schul- oder Arbeitsweg häufig links liegen, weil sie auf dem Fahrrad weder direkt noch über ihr Smartphone mit ihren Freunden kommunizieren können. Das sagten sie selber in einer Studie in Basel. Den Asozialen Subjekten, die das in Kauf nehmen würden, verbieten dann teilweise die Eltern das Velofahren aus Sicherheitsgründen. Diese wissen, wovon sie sprechen, denn 2004 schon hatten 31 % der Fahrzeuglenker angegeben, mindestens einmal täglich ohne Freisprechanlage einen Anruf am Steuer zu tätigen. Die paar Promille Jugendliche, die nun noch übrig bleiben und Velo fahren, sind dann entsprechend ungeschützt im Strassenverkehr unterwegs – getreu dem safety in numbers-Prinzip. Wenn das keine selbsterfüllende Prophezeiung ist, dann hat es noch nie eine gegeben.

Safety in numbers!

A propos safety in numbers: Meine Frau und ich haben drei Kinder. Wir brachten ihnen das Velo fahren bei, solange ihre sprachlichen Fertigkeiten noch nicht so stark entwickelt waren, dass wir ihre Laute nicht jederzeit guten Gewissens als Ausdruck von Begeisterung deuten konnten. Zuerst mit Stützrädern (ein Anfängerfehler beim ersten Kind) und Laufrädern, danach mit stetig grösser werdenden Velos. Über die Steine, welche die Veloindustrie in den Weg dieser an sich natürlich erscheinenden Entwicklung legt, wurde hier schon berichtet. Um die Technik geht es heute aber nicht. Alle unsere Kinder sind inzwischen selbständige Velopiloten und nutzen das auch aus. Das älteste muss inzwischen ins Nachbardorf zur Schule. Der Weg dorthin verläuft bergab und in der Ebene und  ist zu sechzig Prozent für den motorisierten Verkehr gesperrt. Ideale Bedingungen, um gemütlich rollend und plaudernd in der Gruppe zur Schule zu fahren. Trotzdem ist besagtes Kind immer allein unterwegs, ausser es steht ein Schulausflug an, und die Lehrpersonen haben Velopflicht verordnet.

Das Kind ficht das nicht an, und als im vergangenen Februar am Tag eines Schulausfluges wie angesagt Schneetreiben herrschte, stieg es, ohne lange über Alternativen nachzugrübeln, aufs Velo und fuhr los. Ich gebe gerne zu, dass ich an jenem Tag mit dem Bus zur Arbeit gefahren bin. Mein Vaterherz schwoll beim Blick aus dem Busfenster vor Stolz dermassen an, dass ich es in Ordnung gefunden hätte, ein zweites Busticket dafür zu lösen. Seine Mitschülerinnen und -schüler hatten entweder aufs Velo gepfiffen, das Elterntaxi (in mindestens einem Fall auf Geheiss der Eltern…) oder den Schulbus benutzt, der aber nur fünf Plätze für Velos bietet.

Damit sollen weder das Kind noch seine Eltern gefeiert werden – sie haben ja alle nur das nahe Liegende getan. Aber: Genugtuung flutet den velobegeisterten Erziehungsberechtigten (jawoll „-berechtigt“, denn meistens macht das Spass!), wenn sein eigener Nachwuchs mit solcher Selbstverständlichkeit das Velo benutzt. (Der Vollständigkeit halber: Ein Auto stand keines zur Verfügung, und ganz immer fällt die Verkehrsmittelwahl nicht spontan auf das Fahrrad. Das hat meine Begeisterung in dem Augenblick aber nicht geschmälert.) Ich versuche es zwar grundsätzlich zu vermeiden, meinen Kindern meine persönlichen Vorlieben wie Musikgeschmack, politische Gesinnung oder Hobby aufs Auge zu drücken. Man ist aber mal, wie man ist, und das elterliche Vorbild beeinflusst die ständigen Mitbewohner letztendlich – mindestens zu bestimmten Phasen des Gross-werdens.

Jetzt im Sommer fahre ich zweimal die Woche mit dem grossen Kind kurz nach Sonnenaufgang ins Nachbardorf. Mitschüler sind immer noch keine dabei, und so können wir ungestört plaudern. Dabei kommt manches zur Sprache, was zu Hause am Familientisch keine Zeit oder keinen Platz hat. Eine Art Gesprächstherapie mal für das eine, mal für das andere. Oder wir schauen einfach die Umgebung an. Das sind jeweils die besten Arbeitstage für mich – jedenfalls der Start dazu.

Die Zeitmaschine
Die Zeitmaschine

H.G. Wells, Autor von „Die Zeitmaschine“, „Der Unsichtbare“ und „Krieg der Welten“ schrieb oder sagte irgendwann zwischen 1866 und 1946: „Every time I see an adult on a bicycle, I no longer despair for the future of the human race.“ „„Jedes Mal, wenn ich einen Erwachsenen auf einem Fahrrad sehe, verzweifle ich nicht mehr an der Zukunft der Menschheit.“ Mir geht es bei Kindern genauso. Nicht nur bei den eigenen, aber bei denen besonders, denn ihr Anblick auf dem Fahrrad sagt mir: Wir haben bei ihrer Erziehung bisher nicht alles falsch gemacht.

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