Schwitzen am Westentaschen-Stelvio

(Beitragsbild: Fussverkehr Schweiz)

Sackgassen oder Stichstrassen sind der letzte Schrei unter den immer zahlreicher werdenden Rennvelofahrer$innen. Nicht erst, seit Max Küng über die Strecke von Grono nach Prepiantò berichtet hat. Wir von velopflock haben einen weiteren wagemutigen Selbstversuch unternommen, um für euch dem Trend nachzuspüren.

Zu diesem Zweck fragten wir in unserem Bekannt%innenkreis nach Vorschlägen für eine hübsche, aber auch angemessen harte Stichstrasse. Stichstrassen machen nämlich nur Spass, wenn sie ordentlich Haarnadelkurven drin haben. Auf einer flachen Stichstrasse hat man sich einfach verfahren. Flache Strassen wiederum sind so selten mit Haarnadelkurven ausgestattet. Ergo sind Stichstrassen, die Spass machen, gleichzeitig anstrengend zu fahren. Für Rennvelofahrer#innen ergibt das durchaus Sinn.

Wir wählten, wie unser Vorbild, der Küng, eine Strasse in Graubünden, allerdings am gegenüberliegenden nördlichen Ende des Kantons. Ein Freund hat sie uns wärmstens empfohlen, und die Wortwahl hier ist eine ganz bewusste, denn Wärme hatte der Tag zu bieten, lassen Sie sich da nicht vom Beitragsbild täuschen. Einer von unserer Redaktion fuhr also hoch nach Says. Und zwar von Trimmis aus. Says ist seit 2008 keine eigene Gemeinde mehr, sondern wurde von dem etwas grösseren Trimmis einverleibt. Dieses Trimmis ist für Says, was Bourg d’Oisans für die legendäre Alpe d’Huez ist: eine Art Basislager, durch das man hindurch muss, um hoch an sein Ziel zu kommen. In einem Basislager ist es selten schön, es besitzt sozusagen keine Aufenthaltsqualität. Den Wakkerpreis wird auch Trimmis vermutlich nicht mehr erhalten. Es sei denn, die Auswahlkriterien werden auf eines reduziert: „Es hat dort Häuser in dem Dorf.“ Dann sieht es gut aus für Trimmis. Häuser aller Art stehen herum, keines gleich wie das andere in Grösse, Farbe, Form oder Baumaterial, dazwischen lauter Trampolins, Aufstell-Pools und Carports. Damit ist schon gesagt, dass es sich nicht um ein Walserdorf handelt, wie Says eines ist. Ein Walserdorf besteht aus typischen Walserhäusern. Nein, Trimmis ist doch eher ein Gallierdorf. Klein, wie es ist, hat es sich dem Vernehmen nach nicht weniger als dreissig Jahre lang erfolgreich gegen einen Radweg in die benachbarte Kantonshauptstadt Chur gewehrt. Es wollte partout niemand mit dem Velo durch den kühlen Fürstenwald zur Arbeit oder zum Spass fahren. Die wackeren Trimmiser beharrten auf ihrem Recht, ihr Fahrrad auf der Kantonsstrasse zu fahren, gemeinsam mit den achtzig Stundenkilometer schnellen Autos. Nun aber ist der Radweg gebaut.

Die kantonale Verbindungsstrasse Nummer 722.061 Sayserstrasse beginnt auf 571 Metern über dem Meeresspiegel, was nicht unwesentlich ist, denn auf dem Weg ans Meer kommt dort regelmässig ein schöner Teil der Schweizer und deutschen Bevölkerung vorbei, und zwar auf der Autobahn. Beginnt man am Dorfausgang zu zählen, überwindet die geneigte Radfahrerin auf 3840 horizontalen 460 vertikale Meter. Sie ist also recht stark nach hinten geneigt, die Radfahrerin, denn 3840 durch 460, das ergibt eine durchschnittliche Steigung von aufs Loch zwölf Prozent. Auf diesen 460 Höhenmetern haben die Graubündener Ingenieure seinerzeit zehn Haarnadelkurven untergebracht. Also eine alle 46 Höhenmeter. Zum Vergleich: Der schreckliche Stelviopass zwischen dem Südtirol und dem Veltlin, die Überstrasse für Rennvelofahrer schlechthin, stemmt sich den Horden bunt verpackter Abenteurer mit bescheidenen 29 Höhenmetern pro Haarnadelkurve entgegen. Trotzdem sieht er viel böser aus:

Links: Sayserstrasse. Rechts: Giogo dello Stelvio (beides nur Ausschnitte)

Obwohl die Strasse vom ersten Meter an ihre zwölf Prozent herzeigt, ist man froh, aus dem Dorf heraus und sofort in den kühlen Buchenwald hinein zu kommen. Dort wird die Strasse aber nicht flacher, und auch nicht zwischen den nächsten paar Kurven. Und das bleibt so, bis ganz zuoberst in Obersays, wo die asphaltierte Strasse endet. Das Höhenprofil der Strecke ist eine saubere Gerade. Steven Zubers Coiffeur hätte dessen Scheitel auch nicht gerader ziehen können:

(Abbildung nicht ganz masstabgetreu.)

Den ganzen Scheitel hoch schwitzt eine Person auf dem Fahrrad, sie keucht, pendelt mit dem Oberkörper wie ein Elefant am Wassergraben im Zoo, flucht berechtigterweise über die Mittagshitze, und konzentriert sich doch besser darauf, dass sich seine Zunge nicht im sich unmerklich drehenden Vorderrad verheddert. Denn den kühlenden Buchenwald hat die Strasse in Valtanna bereits verlassen, danach zwingt sie einen nach Untersays. Und damit es einem nicht langweilig wird beim mordsmässigen Treten, folgt zuerst Says, und erst dann Obersays. Obersays hat neben hübschen Walserhäusern für Rennvelomenschen vor allem zwei Attraktionen zu bieten: einen kleinen Brunnen und das Ende der Teerstrasse. Also das Ende der Leiden. Das Gipfelkreuz.

Anders als das Basislager hat der Gipfel durchaus Aufenthaltsqualität. Unser Testfahrer wendete trotzdem sofort, denn es hat es mit Abfahrten gleich wie mit einem schönen, grossen Stück Torte: Steht es einmal bereit, kann er schlecht einfach davor sitzen und es anschauen. In Obersays ist das besonders schwierig, denn es gibt dort keine Torte, und die Abfahrt ist so steil, dass man von oben her nicht reinschauen kann. Also stürzte er sich gleich wieder in die Tiefe. Dabei wäre die Aussicht betörend: Zum Calanda gleich gegenüber (das gleichnamige Bier steht leider oder auch glücklicherweise nirgends in Obersays in Trippeldistanz von der Teerstrasse zum Verkauf), rüber auf die Kantonshauptstadt Chur, hoch zu den Spassbikern in Lenzerheide.

Spass machen aber auch die zehn Haarnadelkurven zurück ins Basislager. Weil sie so rasch aufeinander folgen, ist das Bremsen harte Arbeit für Hände und Bremsklötze. Unser Tipp für unten Angekommene: Schwung nutzen, durchziehen und das Basislager möglichst sofort hinter sich lassen, Richtung Chur oder ins Unterland. Wiederkommen lohnt sich – nur für ein nächstes Stück Torte in Obersays.

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