Rad steht, Kind geht

Endlich wieder Schulanfang! Verschlafene Kinder, aufgeregte Eltern, neue Schultaschen, Geschichten aus den Ferien, leere Schwimmbäder und, nicht zu vergessen: die Informationskampagne der Beratungsstelle für Unfallverhütung bfu zum Thema sicherer Schulweg.

Ab und zu kamen diese Kampagnen in der Vergangenheit etwas bieder, angestaubt oder langweilig daher – aber wie will man auch auf spannende Weise vermitteln, dass man kleine Menschen im Verkehr nicht überfahren soll? Das wäre mindestens geschmacklos, eher sogar zynisch.

Dieses Jahr aber hat die bfu mit ihrem Schulanfang-Plakat ein hochbrisantes Thema aufgegriffen – ohne es zu wissen, erst noch. Das diesjährige Sujet ist das Rad eines Autos, je nach Version eines Tretautos, und auf dem Rad steht: Rad steht – Kind geht.

Rad steht - Kind gehtVordergründig geht es damit natürlich um die geheimste aller bedeutenden Verhaltensegeln für Automobilisten: Autolenker sind angehalten, an einem Fussgängerstreifen immer vollständig anzuhalten, wenn sie ein Kind passieren lassen, und nicht bloss einen Rollstopp zu machen. Jedes Schulkind (nun ja, fast jedes) hat nämlich spätestens Ende der ersten Schulwoche seines Lebens brav verinnerlicht, was nun auch die Autofahrer lernen sollen: Dass es erst auf den Streifen treten darf, wenn die Räder des Autos sich nicht mehr rühren. Datum stehen sie häufig wie angeklebt am Randstein und glotzen Autos an, die mit besten Absichten laaangsaaam heranrollen.

So viel zur obersten Bedeutungsebene des Plakates. Eine ebenso grosse Tragweite hat hier aber der gnostische Subt ext(„gnostischer Subtext“ habe ich aus einem Zeitungsartikel über die Songtexte von Bob Dylan; ich verstehe den Ausdruck so wenig wie ich Dylans Texte begreife, denn ich habe mir nie die Mühe gemacht, ihn nachzuschlagen. Das würde die Mystik des Begriffes für mich auf ewig  ruinieren. Stattdessen verwende ich ihn ab und zu als Textballast). Der gnostische Subtext also ruft uns verbittert eine ganz andere Botschaft zu: „Rad steht, Kind geht“ bedeutet in immer mehr Fällen, dass das Fahrrad im Keller bleibt, während sich das Kind zu Fuss zur Schule begibt.

Im Kanton Zürich beispielsweise fahren laut der NZZ gerade mal 17 % der schulpflichtigen Kinder mit dem Rad zur Schule. Die Gründe dafür liegen auf der Hand, und zwar zu zweit: Zum einen verteufeln viele Eltern das Velo als Harakiri-Vehikel und packen ihren Nachwuchs ins SUV, um ihn zur Schule zu kutschieren. Dabei sind sie spät dran und gefährden die 17 Schulkinder, die mit dem Velo auf ihrem Weg zum idealen, hundert Schüler fassenden Schulhaus sind. Das nennt man dann wohl selbst erfüllende Prophezeiung…

Der zweite Grund liegt, etwas weniger gut sichtbar, unter dem ersten: In der Schule! Wohlmeinende Schulbehörden kippen das Kind mit dem Bade aus und verbieten ihren Schützlingen rundweg, mit dem Fahrrad zur Schule zu fahren. Dabei dürfen sie das wohl gar nicht. In den meisten kantonalen Schulgesetzen steht nämlich, dass die Eltern für den Schulweg verantwortlich sind. So ein Veloverbot sollte daher mal gerichtlich getestet werden. Sollte wieder Erwarten herauskommen, dass die Schulen sich in den Schulweg einmischen dürfen, dann sollte man die Schulbehörden beim nächsten Verkehrsunfall auf einem Schulweg sofort verklagen, denn sie haben die Verantwortung ja an sich gerissen.

Ich habe bei der Schulbehörde einer kleinen Berner Gemeinde nachgefragt, was der Vater des Gedankens hinter dem Fahrradverbot für den Schulweg gewesen sein könnte. Die Antwort entbehrt nicht eines gewissen Zynismus‘: Eigentlich wolle man damit ja die Mami-Taxis von der Schule fernhalten, denn für die Kinder sei Bewegung gut. Im Schulreglement steht aber nicht dies, sondern: „Der Schulweg ist zu Fuss zurückzulegen.“ Nein, wie elegant! Da handelt man sich doch auch keinen Ärger ein mit den SUV-Pilotinnen und -piloten! Auch ganz prima ist der Rest des entsprechenden Artikels. Er bezieht sich auf die Oberstufenschüler, die ins Nachbardorf zur Schule müssen, und zwar im eigens gecharterten Bus. Die Oberstufenschüler müssen den Schulweg mit dem Schulbus zurücklegen. Dass es einen prächtigen, mit Belag und Fahrverbot für Motorfahrzeuge versehenen Radweg ins Nachbardorf gibt, knappe vier Kilometer lang, davon ist im Schulreglement keine Rede. Wäre ja noch schöner: da mietet die Schule einen Bus, und drei Kinder fahren eines schönen Sommernachmittags mit dem Fahrrad zur Schule! Was für eine Geldverschwendung!

Es wäre aber argwöhnisch und hinterhältig, den Schulbehörden Argwohn oder Hinterhalt unterstellen zu wollen. Vielleicht sind sie ja einfach von der Auto- und Erdöllobby unterwandert. Diese profitiert schliesslich nicht übel davon, wenn unsere Kinder nicht mehr Fahrrad fahren und folgerichtig später, im Erwachsenenalter, ein Auto benutzen. Honi soit qui mal y pense!

Und untersteht euch, in einen Kommentar die Bedeutung von „gnostisch“ reinzuschreiben.

5 Gedanken zu “Rad steht, Kind geht

  1. Ok, ok, ich habe nachgeschaut. Und ich verstehe trotzdem nicht, was „gnostisch“ heissen könnte. Da habe ich halt „agnostisch“ nachgeschaut, das geht besser (und ist konsequenterweise voll auf meiner Linie): „Agnostizismus ist eine Weltanschauung, die insbesondere die prinzipielle Begrenztheit menschlichen Wissens und Verstehens bzw. Begreifens betont.“

    Ansonsten: meine beiden Schüler dürfen ab der dritten Klasse mit dem Velo zur Schule, sagt die Schule. Vorher ist es wohl zu gefährlich, den Eltern die Verantwortung dafür zu überlassen.

  2. Im Königreich der Anarchie -ganz agnostisch- muss ich laut Schulreglemtn meinem Kind explizit schriftlich erlauben, dass es mit dem Velo kommen darf, nur: Unterhalb von 10 Jahren dürfen die lieben Kleinen sowieso nie unbegleitet den Schulweg antreten.
    Dafür gibt es an jeder Schule sog. „Kiss&Ride“ Buchten für die gestressten auto fahrenden Eltern, damit ihre Kinder „sicher“ aussteigen können.

    Mit den besten Absichten krieiert man offensichtlich den grössten Unsinn, länderübergreifend.

    1. Echt? Kiss&Ride-Buchten? Darf man die wenigstens auch mit einem Cargo-Bike benutzen? Wir lernen daraus: Es gibt nichts, was es nicht gibt. Ausser gesunden Menschenverstand. Den gibt’s nicht mehr. Und Augenmass. Ach ja, Bonanza-Fahrräder mit der Imitation einer Schaltung auf dem Oberrohr (oder war die echt?), das gibt’s auch nicht mehr.

      1. Wage es eine K&R-Bucht mit einem Lastenvelo anzusteuern! Es wird vermutlich ein unvergessliches Erlebnis…
        Übrigens: Da es eine Schule in einem eher gesetzten Viertel ist, werde ich oft gefragt, ob das Velo fahren mit dem Kind zur Schule nicht eigentlich viel zu gefährlich sei…

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