Nachruf auf den archetypischen Velopendler

Nichts Neues hier: Die meisten Dinge und Menschen vermisst man erst, wenn sie plötzlich nicht mehr da sind. Sogar wenn man sie kaum kennt, sondern gerade mal etwas mehr als wahrgenommen hat. Mir ist das auf meinem täglichen Weg mit dem Velo zur Arbeit passiert.

Ich habe das Privileg, auf einem zu vielleicht zwei Dritteln, gefühlt aber zu 95 % verkehrsfreien Weg zur Arbeit radeln zu dürfen. Das gibt einem den Raum und die Ruhe, sich umzusehen und nachzudenken oder gerade nicht nachzudenken. Auf der zweiten Hälfte meines Weges in die Stadt begegnete ich unregelmässig, aber so ungefähr alle ein bis zwei Monate, Herrn R. aus G., der auf demselben Weg wie ich mit dem Velo ins Büro fuhr. Er war etwas langsamer unterwegs als ich, weshalb ich ihn jeweils überholte und dabei grüsste. Vor vielen Jahren waren wir uns mal an einer geschäftlichen Besprechung begegnet, als ich noch an einem anderen Ort wohnte und darum noch nicht mit ihm pendelte. Ich wusste also, wer er war, aber er schien mich nicht zu erkennen.

Herr R. kam mir vor wie ein Relikt aus der Vergangenheit. Ein Quastenflosser oder eine Schreibmachine. Nicht aufgrund seiner Persönlichkeit – die ja nicht kannte – sondern wegen der Art, wie er auf seinem Fahrrad zur Arbeit fuhr. Stilsicher und stoisch, nämlich. Er leitete eine grössere kantonale Dienststelle, weshalb er stets mit Hemd, Jackett, Bügelfaltenhose und Lackschuhen unterwegs war. Auf dem Gepäckträger hatte er seinen ledernen Aktenkoffer festgezurrt, und regnete es, trug er eine Nylonjacke über dem Jackett und einen Filzhut mit breiter Krempe. Der Koffer kriegte einen Plastiksack als Regenschutz. Und er kam nicht selten in den Regen, denn nach meiner Wahrnehmung nahm er täglich, also bei jedem Wetter, das Fahrrad zur Arbeit. Lackschuhe hin, Anzug her.

Sein Fahrrad war ein altes Mountainbike mit Starrgabel, 26-Zoll-Rädern und Lichtern, Schutzblechen und Gepäckträger, die nachträglich angesteckt worden waren (nicht die Räder, nur alles danach war angesteckt). Um einen Filigrantechniker handelte es sich bei Herrn R. nicht, vielleicht war er in jungen Jahren Fussballer gewesen. Beim Pedalen blieb nämlich zwischen jedem Knie und dem Oberrohr Raum für ungefähr ein weiteres Knie. Die Ellenbogen streckte er nach aussen, als würde er sich als Veloprofi gerade in den Massensprint am Ende einer Tour de France-Etappe werfen. Oder so ähnlich wie Chris Froome immer ährtSeine Körperhaltung kontrastierte so gesehen ein wenig mit seiner übrigen äusseren Erscheinung auf dem Rad.

Ich freute mich jedes Mal, wenn ich Herrn R. begegnete. Seine Kleidung und seine Ausrüstung zeigten, dass es für ihn die selbstverständlichste Sache auf der Welt war, sich morgens auf sein Fahrrad zu setzen und darauf ins Büro zu fahren. So, wie er wohl ohne nachzudenken jeden Morgen seine Zahnbürste benutzte. Regen hielt ihn nicht davon ab, und er benötigte weder ein besonderes Rad noch eigens dazu designte Ausrüstung. Ich bin überzeugt, er wäre gleich nach dem letzten Krieg in genauso geradelt.

Im vergangenen Dezember bereits hatte ich in der Zeitung gelesen, dass er in Pension gehen und jemand anderes seine Position übernehmen würde. Ich konnte mich also darauf gefasst machen, ihm bald nicht mehr zu begegnen auf dem Radweg über die Schafweide, in die Stadt hinein. Vor wenigen Tagen war in der Zeitung seine Todesanzeige zu sehen, keine dreo Monate nach seiner Pensionierung. Herr R. war an einem plötzlichen Herzversagen gestorben. Ich realisierte erst in dem Moment, wie lange ich ihn bereits nicht mehr auf seinem Velo gesehen hatte.

Mir kommt es ein wenig vor, als wäre mit ihm der ursprüngliche Velopendler veerschwunden. Der Typ Velofahrer, der unreflektiert das Velo nimmt, jeden Tag, ohne spezielle Ausrüstung, ohne Sicherheitsbedenken oder Sorgen über seine Erscheinung, wenn er nach einer Viertelstunde, ohne zu hetzen, und wenigen Dutzend Höhenmetern im Büro ankommt. Aussterben tun die Velopendler, die Biketoworkerinnen gerade nicht – sie werden in den Städten eher mehr. Dass sie sich dabei Technik und Trends zunutze machen – refkletierende Säume an der elastischen Jeans, Smartphone in der Lenkerhalterung, Helm mit Klappvisier, E-Bike: prima! Duschen werden heute eingebaut in Bürohäusern, und Schränke, was ein grosser Fortschritt ist.

Wahrscheinlich stirbt der typische Pendler nicht aus, er wandelt sich bloss. Aber das Verschwinden von Herrn R. zeigt wohl, dass die Zeit vorbei ist, in der man ohne Furcht und ohne Vorsicht auf den Strassen Velo fahren konnte. Es braucht auch heute keine besondere Ausrüstung, um mit dem Rad zu pendeln, dafür aber Mut, Taktik, Übung – und separierte Infrastruktur. Denn für argloses Radeln gibt es auf den Strassen keinen Platz mehr. Und darum machte mich das Verschwinden von Herrn R. melancholisch.

Mir bleibt nichts anderes, als mich auf die Suche nach einem neuen heimlichen Helden zu machen. Vielleicht ist das irgendwann das Kind, das ich mitten im vergangenen so genannten Winter auf dem Weg über die Schafweide angetroffen habe, als es auf seinem kleinen Fahrrad freudekreischend seinem Vater davongesaust ist, er lachend hinterher rennend. Vielleicht hat es noch Geschwister, die dann auch Fahrrad fahren, und wenn immer mehr Leute auf dem Velo dazu kommen, ergibt sich von selbst Platz für sie, weil viele von ihnen dann nicht Auto fahren. Und dann kommt es zum safety-in numbers-Effekt: wie die Fische in einem Schwarm schützen sich die Radler gegenseitig, wenn sie ausreichend zahlreich sind. Dann werden sie das Rad der Zeit zurückdrehen, und Velofahren im Alltag wird wieder so einfach, selbstverständlich und gewöhnlich wie es schon mal war. Noch bevor Herr R. erschien.

Basel, Mittlere Brücke, um 1950.

2 Gedanken zu “Nachruf auf den archetypischen Velopendler

  1. Einmal mehr möchte ich meiner Freude über Ihr humorvolles und gelungenes Schreiben Ausdruck verleihen, nicht zuletzt auch deshalb, als Basler, ein Bild unserer Mittleren Brücke erkannt zu haben, was mich sehr freute. Ganz besonders rührte mich ihre sehr persönliche und in diesem Fall auch nachdenkliche Seite, die wohl im Zentrum stand an; sie bewegt mich, still zu sein und nachzudenken. Vorallem aber über ihren Gedanken (Mir bleibt nichts anderes, als mich auf die Suche nach einem neuen heimlichen Helden zu machen) anzubringen, dass es sicherlich Menschen auf Ihrer Piste gibt, die in Ihnen jene Person sehen, die sie auf überaus menschliche und schöne Art und Weise hier vorgestellt haben. Vielen herzlichen Dank dafür

    1. Vielen Dank für den längsten Kommentar, den dieser Blog je gesehen hat! Und danke für die freundlichen Worte. Das wäre allerdings das Höchste, wenn irgendjemand mir nacheifern würde, und dann, irgendwann… safety in numbers!

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