Nur wenige Lebensweisheiten sind gleichzeitig so zutreffend und universell anwendbar wie die Feststellung Alles hat zwei Seiten. Ein paar relevante Beispiele.
Dass im Leben alles zwei Seiten hat, durfte ich schon früh in meiner Laufbahn lernen. Ich hatte mich auf dem Weg zur Spielzeugabteilung im Warenhaus hoffnungslos verlaufen. Der Grund war, dass ich bei der Umsetzung der Wegbeschreibung, die mir eine nette Verkäuferin gegeben hatte, links und rechts nicht pingelig genau unterschieden hatte. Ich war schliesslich erst fünf, was hatte die denn von mir erwartet? Eine Lautsprecherdurchsage brachte mich wieder mit meinen Eltern zusammen. Zwei scheint sowieso eine magische Zahl zu sein, denn ich bekam eine zweite Chance, zu lernen, dass alles zwei Seiten hat: Anlässlich einer Chemieprüfung am Gymnasium gab ich – zu meinem eigenen Erstaunen – volle zwanzig Minuten vor dem Klassenbesten mein ausgefülltes Aufgabenblatt ab. Es hätte ebenfalls zwei Seiten gehabt.
Links und rechts kann ich immer noch nicht mit hoher Präzision benennen, aber ich oder meine Umgebung, vielleicht auch beide, haben gelernt, damit umzugehen. Und Chemieprüfungen meide ich, wo ich nur kann. Andere use cases von Alles hat zwei Seiten sind dazu gekommen. Eine sehr interessante Inszenierung, die ich überhaupt nicht habe kommen sehen, ist: Ein Velo hat ebenfalls zwei Seiten, zumindest ein solches mit einem Stahlrahmen. Und das kommt so:
Stahl macht unter allen in Frage kommenden Materialien nicht nur die schönsten Fahrradrahmen, sondern auch die langlebigsten. Das ist grossartig, aber auch nur eine Seite der Medaille. Denn nach einem bis zwei Jahrzehnten fragt man sich, wie es wohl wäre, mit einem anderen Velo zu fahren. In unserer schnelllebigen und verschwenderischen Zeit könnte man darob in Versuchung kommen, sich ein neues Fahrrad zu kaufen. Das bereits vorhandene ist aber eben aus Stahl gefertigt und geht nicht kaputt, also wäre das pure Verschwendung. Sowas bringt nur ein Grobian fertig. (Klammer auf: ich fahre meinem Stahlross seit fünfzehn Jahren und hatte davor bereits einundzwanzig Jahre lang ein anderes. Dieses MUSSTE ich ersetzen, denn es wurde eines Winters, während es in einem feuchten Keller tapfer auf den Frühling wartete, aufs Gröbste von Rost befallen. Jawohl, Rost, denn, wie Sie wissen, hat im Leben… eben. Klammer zu.)
Nie hätte ich gedacht, dass ich nach so vielen Jahren Stahlrahmen ins Zweifeln geraten würde ob meiner Entscheidung für das einzig wahre Rahmenmaterial (Only steel is real! sagen nicht umsonst die Briten, und sie müssen es wissen, denn sie haben schon immer eine Menge Stahl hergestellt.). Ich bin auch nur ein Mensch und beginne mich darum irgendwann ein bisschen zu langweilen in einer vertrauten Umgebung – und weil ich fast täglich mein Fahrrad fahre, ist es mir äusserst vertraut, und zu meiner Umgebung gehört es auch.
Es gibt aber einen workaround für Nicht-Grobiane. Diesen haben wir in diesem Blog bereits beschrieben. Es ging darum, dass man ein neues Fahrgefühl erreichen kann, indem man den Lenker einfach verkehrt herum einbaut. Das hat ganz gut funktioniert. Mein Velo fuhr sich ein bisschen anders als davor, und noch stärker hatte sich sein Aussehen verändert. Wenigstens für mich. Irgendwann erlahmte aber diese Selbsttäuschung. So entschloss ich mich nach monatelangem, zähem Ringen mit mir selbst, einen neuen Lenker zu kaufen. (Nicht, dass ich mich jetzt rechtfertigen will, aber der alte Lenker war aus Aluminium, er wäre bestimmt demnächst gebrochen. Der Wechsel war also quasi eine unverzichtbare Sicherheitsmassnahme, wollte ich meine Kinder nicht früher als nötig zu Halbwaisen machen.)
Als ich endlich das richtige Modell – nicht zu breit, ein bisschen nach hinten, aber auch nach oben gezogen, mit dem passenden Schwung nach vorne – im weltweiten Netz gefunden hatte, kam es, ich gebe es ungern zu, zu einer Affekthandlung, und ich bestellte eine ganze Kiste neuer Teile. Das Affektartige (Affektuöse? Keinesfalls Affektierte.) bestand nicht darin, dass ich irgendeinen unbrauchbaren Ramsch zusammengekauft hätte. Sondern darin, dass ich an dem Tag spontan die Abklärungen abbrach und bestellte. Einen Lenker und dazu gleich noch einen Frontkorb, der mir auch schon ziemlich lange vorgeschwebt hatte. Und für einen Frontkorb benötigt man auch ein Gepäcknetz, damit nichts rausfällt unterwegs.
Ich habe mich dafür geschämt, im Internet bestellt zu haben, bis das Paket endlich in unserem Heim stand. Seither nicht mehr.


Glücklicherweise standen wenig später auch gleich die Osterfeiertage in unserem Heim, und zwar teilweise verregnet, so dass ich gleich Zeit für den Einbau fand. Nun bin ich beim Schrauben leider talentfreie Zone. Und den Gemeinplatz, dass Übung den Meister macht, habe ich sowas von widerlegt. Aber die Leute bei Pelago in Finnland, die mir die Teile verkauft haben, haben ganze Arbeit geleistet und eine gut verständliche Montageanleitung im Posterformat beigelegt. (Dreht man sie um, ist sie tatsächlich ein Poster.) Damit wurde selbst ich in die Lage versetzt, den Korb über dem Vorderrad anzubringen. Dank der praktischen Ahead-Vorbauten, bei denen man den Lenker beim Wechseln nicht durch die Klemme zu ziehen braucht, ist so ein Lenkerwechsel auch ein Kinderspiel, und so blieb nur noch die Verkabelung des Scheinwerfers, der künftig am Korb statt am Gabelkopf sitzen wird. Beim Gedanken daran wurde mir schon ganz anders. Ich lenkte mich ab, indem ich meine letzte Rolle Newbaum’s-Baumwoll-Lenkerband an meinen neuen Lenker band, samt Hanfschnur-Abschluss ohne Knoten. Danach machte ich eine Probefahrt und konnte feststellen: Das ist zwar noch mein altes Fahrrad, sieht aber nicht mehr so aus und fährt sich auch ganz anders. Mission erfüllt!



Um an den Anfang zurückzukehren: Alles hat zwei Seiten. Das gilt besonders für das Bestellen von Waren im Internet. Seite 1: Grosse Auswahl, bequemes Bestellen, rasche Lieferung. Seite 2: Die Rechnung vom Zoll, die keinerlei Bezug zur Herkunft der Ware oder ihrem Verkaufswert zu haben scheint. Ist mehr eine Lotterie. Als ob ich das nicht gewusst hätte. Bloss gut, dass ich mein Velo in den kommenden fünfzehn Jahren neu und aufregend finden werde, so dass ich nichts mehr im Internet bestellen muss.
Aarios Flitzer mit 60er Rahmen? Für die Ewigkeit
Discovery mitSwie ich meine, 62er Rahmen. Aber auf jeden Fall Ewigkeit! 💪 Fährst du auch ein Aarios?
Spider Rahmen 60, LX und
Discovery Large Rahmen 68, LX mit Scheibenbremsen
Tolles Fahrgefühl mit meinen 194cm
Schöne Ostern noch. 😏
Börney
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Ich hab grad nachgesehen: ich habe auch den 60er-Rahmen (bei 196 cm), einmal als Reiserad mit Felgenbremse und einmal als Gravel Bike mit mechanischer Scheibenbremse.
Ohja das Gravel, hab ich auch schon geliebäugelt… wenn das mal zum Verkauf stünde… 😏 mit dem Rahmen 😩😜
Übrigens, mein Spider hab ich mal als 100.– Bahnhofsvelo mit ergonomischem Lenker gekauft. Das war mir so auf den Leib gegossen, dass ich es über Weihnachten zerlegte und nach Gretzenbach zur Neulackierung brachte. Ein befreundeter Velomech half mir beim Zusammenschustern und nun ist es einfach was besonders schönes, damit rumzufahren
Die Finnen sind schon cool. Pelago macht ja auch recht große Rahmen (wobei: mein Patria Randonneur ist nur 620 mm hoch, ich bin 2020 mm). Die Genelec-Aktivboxen mit DSP sind auch ein gutes Beispiel für finnisches „no nonsense“ am Produkt. Die können was sie können.