Sieht so die Schweizer Veloszene aus?

Seit der Ankündigung des ersten Lockdowns wegen der COVID-Pandemie wurde viel Schlechtes über unsere Regierung und die Bundesverwaltung geschrieben. Trotz all den Rechtfertigungen, Sensibilisierungskampagnen und Lockdown-Definitionen, welche der Bund seither verfassen musste, konnten seine Leute aber die dringendsten Kernaufgaben eines Staates weiterhin wahrnehmen: Den Unterhalt der Nationalstrassen und die Untersuchung des Bewegungsverhaltens der Schweizer Bevölkerung.

Unter anderem wurde in der Pandemiezeit die Studie Sport Schweiz publiziert und daraus das Faktenblatt Velofahren abgeleitet. Dieses liefert detaillierte Zahlen zur Aktivität der Schweizer im Velosattel.

Eine Erkenntnis sticht heraus:

42 Prozent der Wohnbevölkerung im Alter ab 15 Jahren zählen Velofahren zu ihrer Bewegungs- und Sportaktivität. Somit hat Velofahren zwischen 2007 und 2019 an Popularität gewonnen. Im Mittel fährt man pro Jahr an 40 Tagen Velo und ist an einem solchen Tag eine Stunde im Sattel. Das sind doch schöne Werte (obwohl, es dürfte ja schon ein bisschen mehr sein), und die lassen wir uns gern auf der Zunge zergehen. Denn nun kommen weniger angenehme Fakten.

Das Velomagazin Velojournal hat die Grafik „Velonutzung nach Geschlecht und Alter“ aus diesem Faktenblatt verdankenswerterweise etwas aufgehübscht und Kategorien zusammengelegt, so dass man auch was herauslesen kann, ohne vorher einen Abendkurs in Statistik belegen zu müssen. Schauen wir uns die Grafik zur Velonutzung nach Geschlechtern einmal an:

(Daten: Studie Sport Schweiz, 2020; Grafik: nach velojournal)

61 % der Frauen nutzen offenbar das Velo nur im Alltag, also um zur Arbeit zu fahren, Besorgungen zu machen oder die Kinder von der Schule abzuholen. Bei den Männern sind das gerade mal 43 %. Was sagt uns das? Sind Frauen allenfalls umweltbewusster als Männer? Fehlanzeige, denn es gibt Studien, welche das umweltfreundlichere Mobilitätsverhalten von Frauen mit der ungleich verteilten Haus- und Familienarbeit erklären. Konkret: Sepp fährt mit dem Familien-Van ins Büro und lässt ihn dort zehn Stunden auf dem kostenpflichtigen Parkplatz stehen, während sein Bethli den Haushalt und die Kinder zu Fuss, mit dem öV oder mit dem Velo betreuen muss. Sie hätte aber auch lieber den Van.

Gleichstellung sieht ja doch anders aus. Und mitten in diese Ernüchterung hinein platzte ein Bild, das irgendwo zufällig aus einer alten Ausgabe des velojournals heraussprang, wenige Tage nach der Lektüre des obigen Artikels. Es ist das offizielle Plakat der Cycle Week 2021 in Zürich. „Das Festival zum Auftakt der Velosaison, das alle Facetten des Velofahrens abdeckt und nahe am Geschehen ist“ (von der Website des Festivals) findet nun jeweils im Frühjahr in Zürich statt.

Die drei abgebildeten Personen sind keine Models, sondern waren an der Durchführung der Cycle Week beteiligt: Ein Velo-Aficionado, ein Radiomoderator sowie Nathalie Schneitter, ihres Zeichens erste E-MTB-Weltmeisterin. Der Klischee-Hipster links, auch Bart und Tätowierung ginegn nicht vergessen, und der Flowtrail-Shredder im Spreizschritt in der Mitte könnten nicht überzeichneter sein. Da will man bloss wegschauen, aber wohin? Nach rechts etwa, zur Weltmeisterin in Tussi-Pose, mit dem farblich zum Rahmen passenden Oberteil? Bei ihr ist unklar, ob sie uns an die Cycle Week oder in einen Pole-Dancing-Laden locken will. Mein Auge jedenfalls wollte unbedingt weiter und erfreute sich dann an den hellgraugrünen Rahmen. Die sind nämlich schön. Das Bild, das hier von der Schweizer Gesellschaft gezeichnet wird, ist es nicht. Fehlt einzig ein Körbchen auf dem Gepäckträger mit Gemüse, Cervelat und Brot drin.

Es steht auch zu befürchten, dass das Plakat die künftige Ausrichtung der Cycle Week darstellt, die ja aus den Bike Days in Solothurn (Mountainbiking) und dem Urban Bike Festival in Zürich (Alltagsverkehr und Velokultur) geknetet worden sind. Während es gewiss genug Messen für Sporträder gibt, war das Urban Bike Festival im Schiffbau eine spannende und gelungene Abwechslung für alles andere als Sport. Diese Entwicklung wiederum spiegelt jedoch die Tendenz in der Schweiz, das Velo in erster Linie als Sportgerät zu betrachten, und so gesehen ergibt die Fusion leider Sinn. Aber schauen wir uns mal die nächstjährige Cycle Week an.

2 Gedanken zu “Sieht so die Schweizer Veloszene aus?

  1. Du sprichst mir aus dem Herzen. Velofahren ist das natürlichste der Welt und soll auch so gelebt werden. Das auf dem Plakat zelebrierte krasse Erlebnis-Image mag den Herstellern Umsätze generieren – dem Velofahren als sinnvolle Mobilitätsform im Alltag hilft es leider nicht.

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