Neuheit: Die Tour de France ist spannend!

In meinem Velostall stehen unter anderem ein tolles Mountainbike und ein tolles Rennrad. Der absolute Überfluss, das brauchen Sie mir nicht zu sagen. Da ich nicht beide gleichzeitig fahren kann, muss ich mich bei den leider seltenen Gelegenheiten, an denen ich zum reinen Selbstzweck Velo fahre, in der Regel zwischen diesen beiden entscheiden. Das Gravelbike lassen wir mal beiseite, denn über alle meine inneren Abgründe muss das Internet nicht Bescheid wissen. Seit Jahren fälle ich diesen schweren Entscheid nach dem selben Kriterium: Ist die Tour de France noch nicht vorbei, nehme ich meistens das Rennrad vom Haken. Nachher fast nur noch das Mountainbike. Das hat verschiedene rationale Gründe, die mit Schnee in den Bergen und Herzfrequenzen zu tun haben. Vor wenigen Jahren aber habe ich entdeckt, dass die Entscheidung zugunsten des Rennvelos tatsächlich mit dem Profiradsport zu tun hat. Ich schaue mir ab und zu Übertragungen von Rennen im Fernsehen an, und das macht Lust, selber mit 45 km/h durch den Gegenwind zu pflügen oder im schwungvollen Wiegetritt unter 45 Grad Neigung durch Haarnadelkurven zu wuchten. So kommt es dann natürlich nie, aber trotzdem kann ich mich der Illusion hingeben, ich sei schnell unterwegs. Befragungen von Zuschauern beim Verlassen des Kinos haben übrigens ergeben, dass wir einen Teil des Films, eine Eigenheit eines Charakters wie seine Sprechweise oder Bewegungen oder auch nur die Grundstimmung des Films mit hinaus in unser Leben nehmen und für wenige Stunden unbewusst imitieren oder weitertragen. Sowas muss das bei mir mit den Übertragungen von Strassenrennen auch sein. Ich würde zwar lieber Stufenbarren schauen, aber ich hab keinen im Keller.

Und damit zum Thema: Seit den frühen Neunzigern ist der Verlauf der Tour de France recht eintönig. Es gewinnt der bereits vor dem Rennen feststehende Favorit – in der Regel ein mehrfacher Vorjahressieger wie Miguel Indurain oder TTWSNBN (the Texan who shall ot be named) oder ein anderer, der spätestens nach dem Mannschaftszeitfahren Mitte des Rennens uneinholbar an der Spitze liegt. Der einzige Funken Hoffnung ist eigentlich keiner: die nicht zu vernachlässigende Wahrscheinlichkeit, dass einer gewinnt, der betrogen hat und hinterher disqualifiziert, verschmäht und gesellschaftlich hingerichtet wird. Ein bemitleidenswerter Nostalgiker, wer sich Hoffnungen auf ein anderes Programm macht. Kleine Randnotiz: Beim Giro d’Italia im Mai ist jeweils alles anders, spannender, schöner, und ausserdem hat Italien eine Küche, die den Namen verdient. Frankreich hat das nicht. Ex-cu-sez!

Dieses Jahr aber ist alles anders! Zwar ist das neue Mountainbike noch beinahe unbenutzt, aber die Tour ist dieses Jahr spannender als alle Austragungen der letzten zwei Jahrzehnte. Das begann eigentlich schon lange vor dem Start, nur konnte es noch keiner erkennen: Der vierfache Toursieger und Favorit Chris Froome schneuzte seine Nase und wurde dabei von einer Bö erfasst und vom Rad gehoben. Ein Oberschenkelbruch setzte ihn ausser Gefecht. Ein Holländer, Mitfavorit, schied ebenfalls vor dem Start aus. Damit schien der Weg frei für den Vorjahressieger, und die grosse Monotonie klopfte wie gewohnt Anfangs Juli an die Tür.

Dann aber betrat ein Fahrer die Bühne, der nicht für die grosse Geschichte vorgesehen war, ein besonders erfolgreicher Spezialist für Eintagesrennen zwar, jedoch kein Rundfahrer und ausserdem einer eigentlich ausgestorbenen Spezies angehörend: den erfolgreichen französischen Tourteilnehmern. Dazu kamen ein talentierter, aber unerfahrener Jungspund aus Südamerika und ein unbeschwerter, unbekannter Deutscher, die sich ebenfalls weder durch das Mannschaftszeitfahren noch durch Windkapriolen abschütteln liessen. Der Eintagesfahrer freute sich erstmal über die unerwartete Ehre, das Maillot Jaune tragen zu dürfen und gab sich dann jeden Tag grosse Mühe, es jeweils noch einen Tag länger zu verteidigen. Da er es sowieso nicht als Erster nach Paris schaffen würde, tat er, was er am besten kann: fahren, als ob es kein Morgen gäbe. Und nun stehen wir zwei Tage vor dem Ende der Rundfahrt (der Sonntag mit der traditionellen Spazierfahrt nach Paris zählt nicht als Renntag), und er hat das Teil immer noch an! Er torkelte zweimal, fiel aber nicht, sondern fing sich und rannte jeweils gleich wieder an gegen jene, die ihn mit minutiöser, akribisch- wissenschaftlicher Vorbereitung und kühl kalkulierender Renntaktik besiegen wollen. Die dem Rennen durch Frankreich ihre Saisonplanung und wohl auch ihren Stuhlgang kompromisslos unterordnen.

Drago
So in der Art.

Sollte der französische Robin Hood die zwei letzten Tage im Gebirge überstehen, sähen die Dampfwalzen-Teams ganz schön dumm aus: Er hatte nichts grösseres im Sinn für die Tour als einen Etappensieg, vielleicht nochmals das hübsch gepunktete Bergpreis-Trikot erobern, und sonst die Heimat grüssen; davor hat er in diesem Jahr aber schon mehrere wichtige Siege eingesackt, darunter Mailand – San Remo. Und die Ivan Dragos hätten dann: nichts. Das ist heute wohl auch dem Vorjahressieger klar geworden: Als wenige Kilometer vor Schluss der Klassiker endlich etwas zurückfiel, vorne aber sein Lehrling einfach davonfuhr, schien ihn der Frust zu übermannen, und er griff selbst mit wutverzerrten Gesicht an. Dabei sind die Klassementsfahrer immer so beherrscht unterwegs und tragen ein Pokerface.

Ich wünsche dem Klassiker-Fahrer den Gesamtsieg von ganzem Herzen, noch mehr aber wünsche ich es mir selber und dem Radsport, der dann wieder etwas interessanter würde. Ausserdem liebe ich Underdog-Geschichten.

Das Velo ist und bleibt eben eine Glücksmaschine, und darum fahre ich morgen früh damit in der Morgenfrische der Sonne entgegen. Zur Arbeit zwar, aber das tut ja nichts zur Sache.

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