Auch der Radfahrer ist ein Gewohnheitstier. Das ist kein Vorteil für ihn.

Genau: man gewöhnt sich an alles, was nicht tierisch wehtut, und stört sich irgendwann an gar nichts mehr, solange man daneben ein einigermassen geregeltes Leben führen kann. An die verrauchten Restaurants und Bars von früher hatte man sich gewöhnt, an den Strassenlärm nachts bei geöffnetem Fenster, an den Hochnebel, an die ständigen schwachen, aber schleichend zunehmenden Rückenschmerzen, an das eigentlich gar nicht so leckere Essen in der Kantine. Wieso sollte man sich auch aufregen? Stirbt ja keiner dran, geht schon, und wenn doch, trifft es nicht mich oder ich erfahre nichts davon. Trifft es doch mich, ist es auch zu spät, was zu ändern. Also weiterhin nach dem Ausgang Kleider waschen, mässig gut schlafen, im November schlechte Laune haben. Ewig gleichen Kantinefrass essen.

Und so haben wir uns – ich spreche jetzt von der Schweiz – auch daran gewöhnt, dass Velofahren in unseren Dörfern, Städten und Agglomerationen durchaus möglich ist, aber nicht mehr. Ja, ich kann mit dem Velo zur Arbeit oder ins Kino. Es ist zwar etwas mühsam, weil man ständig Umwege und Ecken fahren und manchmal höllisch aufpassen muss. Aber es geht, und es verunfallen auch nicht Unmengen von Leuten. Zu unserer Sicherheit benutzen wir Helm, Licht, Reflektoren, Leuchtweste, Rückspiegel und Klingel oder Hupe. Ist ja keine grosse Sache!  ABS, Blinker und Airbag stehen kurz vor oder nach der Marktreife. Wir regen uns kaum mehr über holperige Strassen, nicht existierende Velostreifen und-wege oder das angespannte Verhältnis zwischen Auto- und Velofahrenden auf, nehmen sie nicht mal mehr wahr. Aber der Spass, das gute Gefühl ist auf der Strecke geblieben.

Erst wer dann mal in Holland, Dänemark oder einer der fahrradfreundliche deutschen Grossstädte auf einem Radweg fährt, der die Merkmale einer Velostrasse erfüllt – wenig oder kein Autoverkehr, durchgehender Vortritt, breite Fahrbahn, direkte Linienführung – bemerkt nach einer Weile, dass es nicht nur die Sprache oder die Farbe der Fussgängerstreifen sind, die anders sind als zu Hause. Es fährt sich entspannter, und nicht bloss, weil man in den Ferien ist. Sondern weil man artgerecht gehalten (oder eben fahren gelassen) wird. Vielleicht kommt man gar nicht dermassen viel schneller vorwärts, aber man fühlt sich besser. Das klingt jetzt banal, macht im Erleben aber einen Unterschied, den man vorsichtshalber in Lichtjahren ausdrücken sollte.

Natürlich können jetzt nicht alle Schweizerinnen und Schweizer mit ihrem Velo in den Norden fahren, um ihr Erweckungserlebnis zu haben. Das gäbe zuerst Probleme im Zug, nachher auf den Strassen. Aber man kann versuchen, sich vorzustellen, wie es wäre, wenn. Wem das nicht so einfach gelingt, kann beispielsweise die Videos von streetfilms zu Hilfe nehmen, oder sich alte Fotos vom Strassenraum in den Schweizer Städten angucken. Das sah so aus:

Radausflug an der Zürcher Bahnhofstrasse, 1891 (Bild: Zürcher Baugeschichtliches Archiv)

Oder so:

Klausenpass, 1927 (Bild: „Saumpfad Lini Speedway. Die Erschliessung des Klausenpasses“ (Marion Sauter, Emmenbrücke 2016)

Oder auch so:

Aber sicher nicht so (fast gleiche Stelle):

Das hatte doch was, oder?

Derart geläutert und erleuchtet, geht es nun daran, etwas gegen die suboptimale Infrastruktur zu unternehmen, denn Jammern allein hilft ja nichts. Gelbe Farbe kaufen und heimlich einen Radstreifen malen übrigens auch nicht. Besser: die eigenen Erfahrungen teilen und damit dazu beitragen, dass die zuständigen Stellen in der Verwaltung etwas dagegen machen. Seit kurzem kann man das ganz einfach tun. Man registriert sich auf www.bikeable.ch, macht auf seinem Handy ein gut positioniertes Lesezeichen dazu und fährt los. Mission:

Komme ich an einem „Spot“ (heisst so auf bikeable) vorbei, der gefährlich, total unkomfortabel oder unlogisch ist, poste ich das auf bikeable. Zu diesem Zweck mache ich ein Foto von der Stelle, registriere die Position per GPS und beschreibe kurz das Problem. Wenig später erscheint mein Eintrag auf der Website, samt Punkt auf der Karte. Ganz wichtig: Ich kann auch Spots posten, die besonders gelungen, sicher, komfortabel oder nützlich sind. Muss ja auch gesagt werden, denn das macht gute Stimmung (siehe weiter unten). Der Clou: Ich kann auch Beiträge von anderen kommentieren. So kriegen die Meldungen Gewicht. Und der User, dessen Meldungen bis Ende Monat am häufigsten bestätigt werden, der kriegt ein Geschenk.

Bevor ihr jetzt vom Sofa hüpft und ruft:“Und wem soll das etwas nützen?“, überlegt: Es kann schon unheimlich befreiend sein, seinen Ärger in den Cyberspace zu pusten wie ein Staatspräsident. Aber das ist nicht mal der Punkt. Da die Einträge frei einsehbar sind, kann sich ein Bauamt mit einem Funken guten Willen prima orientieren, wo sie zehntausend Franken einsetzen wollen, die sie gerade übrig haben („Ach, die fahren lieber nicht auf der Fahrbahn dort? Na, dann pinseln wir ihnen doch mal rasch einen Radweg aufs Trottoir!“). Nein, das ist nicht ironisch gemeint. Zehntausend Franken reichen beim Bau von Veloinfrastruktur schon ganz schön weit. Sollte euer Bauamt sich (wider Erwarten) nicht interessieren, können engagierte Bürger oder Velolobby-Organisationen dem Bauamt auf die Zehen treten. Aber bitte mit Anstand, denn dann geht alles leichter.

Daten sind also Macht! Ist ja nichts Neues. Ein Post mag nur der kleine erste Schritt sein, aber der muss ja auch erst gemacht werden. Also los!

Wer jetzt immer noch skeptisch ist, darf hier nicht mehr weiterlesen.

 

Alle anderen dürfen sich zur Belohnung noch dieses Video ansehen (kam eben per E-Mail an). Yeah. Bikes are awesome.

4 Gedanken zu “Auch der Radfahrer ist ein Gewohnheitstier. Das ist kein Vorteil für ihn.

    1. Ja, ich dachte mir schon, dass die Schweizer Seite keine komplett neue Seite ist. Wie verbinden sich die Kommunen denn mit dem System?

      1. Die Verbindung erfolgt über eine Webplattform. Parallel dazu gibt es auch die Plattform „Fixmystreet“ mit Fotos, aber der Ping hat den Vorteil der Gewichtung. Allerdings habe ich auch schon gewitzelt: Auf manchen Strecken könnte ich vor lauter „ping“ kaum mehr radeln… 😉

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