Charity-Events, also Wohltätigkeitsveranstaltungen, sind keine neue Sache, es gab sie schon vor vierzig Jahren. Meine Kindheit hat an ihnen Schaden genommen, weil ich lange Samstagabende lang die Unterhaltungssendungen der deutschen Krebsliga, der Aktion „Ein Herz für Kinder“ oder „Nachbar in Not“ erdulden musste. Damit sei nichts gegen deren Zweck und hehren Absichten gesagt, und sie haben sicher vieles erreicht. Ich konnte bloss nicht einsehen, wieso jemand sein Herz oder, wichtiger noch, sein Portemonnaie öffnen sollte, wenn man ihn mit Karel Gott beschallte. Bei mir funktionierte das damals jedenfalls nicht, aber ich hatte ja auch nicht viel auf der hohen Kante, das ich hätte spenden können.
Mit der Erfindung des Internets und der damit einhergehenden Aufwertung des Individuums und seiner Bedeutung für die gesamte Menschheit ist die Anzahl der Charity-Events durch die Decke gegangen. Nicht weil die bekannten wohltätigen Organisationen noch mehr Stars an Bord geholt oder neue Formate erfunden hätten, um unser Herz anzuzapfen. Der Grund ist, dass sich heutzutage die halbe Menschheit dazu berufen fühlt, der anderen zu helfen. Oder mindestens so zu tun. So ist heute keiner mehr zu klein, ein Hilfswerk zu sein und seine krasse Ferienreise mit einem herzensguten Zweck zu verbinden. Ich habe nur eine ungefähre Ahnung, wie das funktionieren soll. Würde ich beispielsweise nach Santiago de Compostela pilgern wollen (was ich tatsächlich als ziemlich heftigen Abenteuertrip ansehe, angesichts der Pilgermassen in Spanien und der – wie man liest – von diesen Massen arg genervten Gastgebern entlang der Pilgerwege) kann ich ja zu der Zeit kein Geld verdienen. Damit ich unterwegs und mit den Kosten der nicht genutzten Infastruktur zu Hause (Auto, Parkplatz, Wohnung, Autoversicherung, Hausratsvericherung, um nur die gängigsten zu nennen) nicht alles Ersparte verbraten muss, pumpe ich Freunde, Verwandte und Mitarbeitende und überhaupt die ganze Internet-Community um einen Beitrag an meine Unkosten an. Damit verbunden ist das Versprechen, einen ordentlichen Teil des gesammelten Geldes an eine vergessen gegangene Gruppe Hilfsbedürftiger zu spenden. Nebenbei kriegen alle Spender – und das ist der Hauptzweck der ganzen Aktion – auch noch auf sämtlichen verfügbaren Online-Kanälen in schöner Regelmässigkeit exklusive Darstellungen des Pilgeralltags zugestellt, samt Beschreibung der asturischen Landschaft, der berührendsten Begegnungen mit den tapfersten Pilgern und der exakten Position der aktuell wundesten Stelle am Körper des Helden. Will ich mit den besten mithalten, sammle ich auch noch unterwegs Geld. Schleierhaft ist es mir aber schon, wie man es auf einer Veloreise durch Afrika anstellt, Geld für Hungernde in Afrika zu sammeln. Hut ab vor Hugo und Béatrice aus K., Jörg und Julia aus B., Roy und Ellen aus L.T.de P. und allen anderen Könnern, jedenfalls.
Vielleicht ist es meine verzerrte Wahrnehmung, aber mir scheint, unter diesen Geschäftsreisenden in Sachen Nächstenliebe seien besonders viele mit dem Velo unterwegs. Schon lange treibt mich deshalb die Frage um: Sollte ich nicht auch mal? Wäre ich ein noch besserer Mensch, als ich es durch die Benutzung des Fahrrades an sich schon bin, wenn ich auch noch das Geld aufsammeln würde, das offenbar auf der Strasse liegt? Ich tat also, was sich in solchen Situationen immer tue: ich startete einen verwegenen Selbstversuch.
Dazu musste ich aber ein eigenes Modell entwickeln, um meinen Charity-Ride innerhalb der Randbedingungen meines Alltags abzuwickeln. Diese waren, unter anderem:
- Die Familie musste mit, denn meine Urlaubstage im Büro waren beinahe aufgebraucht, und der Familienherbsturlaub stand noch aus.
- Der CR (kurz für Charity-Ride) durfte nicht allzu lange dauern, denn meine Urlaubstage im Büro waren beinahe aufgebraucht. Vier Tage mussten reichen. CR4, sozusagen.
- Weil mir die Idee zu CR4 nur wenige Tage vor den Schulferien kam (siehe Punkt 1), konnte ich nicht mehr unbegrenzt viele Spender mobilisieren.
- Weil ich nicht so ein Digitales bin, konnte ich auch über das Internet nicht mehr unbegrenzt viele Spender mobilisieren.
- Weil ich kein grosser Philanthrop bin, kam mir so spontan keine geeignete Gruppe von Hilfsbedürftigen in den Sinn, der nicht schon von anderen viel umfangreicher, auf originellere Weise und seit längerer Zeit geholfen wurde.
Aus diesen und zahlreichen anderen Gründen musste ein anderes Geschäftsmodell her. Nach einigem Nachdenken kam mir zu Punkt 5 dann doch noch ein Hilfling in den Sinn: die Schweizer Wirtschaft, genauer gesagt der Schweizer Tourismus auf KMU-Ebene (kurz für kleine und mittlere Unternehmen). Diese Gruppe war in letzter Zeit besonders gebeutelt worden: durch die Festsetzung des Euro-Mindestkurses im Jahr 2015 und die darauf folgende panikartige Abwanderung der einheimischen Bevölkerung zum Einkauf (ein Sack Corn Flakes einen Franken billiger in Konstanz!) und zum Urlaub (in Österreich sind alle so viel freundlicher, flexibler, schöner und billiger, und ein Schokoherz liegt auch noch auf dem Kopfkissen!) ins angrenzende Ausland. Und natürlich durch den Einkauf im Internet (sogar Autoreifen kann ich mir nach Hause liefern lassen, sofern ich einen ausreichend grossen Briefkasten habe oder aber zum Zeitpunkt der Lieferung anwesend sein kann. Und ausserdem die gewünschten Dimensionen der Reifen korrekt angeben kann).
Den KMUs im Schweizer Tourismus sollte also unter die müden Arme gegriffen werden. Allerdings nicht durch irgendwelche Gönner, sondern der Einfachheit halber gleich durch mich selbst (siehe Randbedingungen 3 und 4). Und nicht nach dem Giesskannen-Prinzip, sondern genau jenen Betrieben, die entlang der von uns zu diesem Zweck vorgesehenen Velo-Reiseroute lagen. Das Prinzip von CR4 war schnell geschustert: Wir würden zu fünft vier Tage lang mit unseren Fahrrädern durch einen ländlich geprägten Teil der Schweiz pedalen (viele Höfe und Hofhunde, wenig Verkehr, sportliche Autofahrer, zahlreiche sehr fantasievoll gestaltete Schilder mit dem Namen von Neugeborenen an den Fassaden). Wir würden uns ausschliesslich in Dorf- oder Hofläden mit Nahrung eindecken, statt Dosenfutter von zu Hause (also aus Konstanz) mitzunehmen, nur in Bed-and-Breakfast-Zimmern statt Hotels internationaler Ketten übernachten und als Unterhaltungsprogramm (so denn Zeit dafür bliebe neben all dem Pedalen und Einkaufen) nur Streichelzoos oder KMU-Betriebsbesichtigungen berücksichtigen. Sollte uns ein technischer Defekt ereilen, würde ich diesen nicht selber beheben, sondern das betroffene Fahrrad zur nächsten Landmaschinen-Werkstatt buckeln.
Das Fazit ist ermutigend: alle grossen und kleinen Teilnehmer unseres Förderprogramms sind unversehrt und zufrieden von der Reise zurückgekehrt. Dank der nahezu perfekten Beschilderung der regionalen und nationalen Velorouten, die wir benutzt haben, ging keine wertvolle Spender-Zeit mit Navigation verloren.
Wir haben allerhand erlebt, etwa wunderschöne Herbstlandschaften:
einen Moorpfad, temporeiche Abfahrten durchs Laub:
Blick auf ein Kernkraftwerk (siehe die velopflock-Instagram-Seite) und, ganz wichtig, wie immer eine positive Kalorienbilanz, da wir die lokale Küche abends immer ausgiebig geprüft haben. Dazu kamen nette und aufschlussreiche Begegnungen mit äusserst freundlichen Gastgebern in den B&Bs und mit deren Haustieren, Stoff für Berichte am Arbeitsplatz, wertvolle Infos für kommende Geografie-Prüfungen sowie die ersten Weihnachtsgeschenke. Eben habe ich auch die App meiner Kreditkartengesellschaft geprüft: Das Geld ist geflossen, und zwar reichlich. Der Preis, der stimmt aber. Vier Tage Familien- und Naturerlebnis für unter tausend Franken, zu fünft. Und die Leute waren freundlich, flexibel, schön, und statt Schokoherz auf dem Kissen gab’s ein Kilo Trauben in die Radtasche. Schmeckt mir sowieso viel besser. CR4 war also ein voller Erfolg und muss nächstens wiederholt werden. Ist übrigens ganz einfach nachzumachen.
Das Rad im ersten Bild (Titelbild): Ist das einalter Haas-Rahmen?
Nein, ein Aarios-Discovery-Rahmen. http://www.aarios.ch.
Eieiei, die sind aber gut unterwegs. Vielleicht brauche ich doch mal eine Einreisesperre für die Schweiz? 😉
Ich liebäugle schon länger mit dem Discovery Cross…
Das wäre mir auch ein Kandidat, weil es auch recht lang baut, da wäre eine Höhe von „nur“ 60 cm gut zu verkraften…aber bevor ich damit anfange liegen hier noch andere, durchaus schöne, Projekte…
Ein wunderbarer und schöner, humorvoll geschriebener Bericht, recht herzlichen Dank. Eigentlich ganz lustig, dass ich über die Google-Eingabe Aarios auf Dein Titelbild vom Discovery gestossen bin und folglich deine Story las, die ich kürzlich alleine erleben durfte (3 tägige Jurafahrt mit meinem Discovery Large). Wünsche weitere bezaubernde Reisen mit der Familie in der Schweiz und gute Gesundheit.