Am letzten Wochenende habe ich möglicherweise die letzte Ausfahrt des Jahres mit dem Rennrad unternommen. Möglicherweise, denn man weiss ja nie, ob man vor dem Winter (damit ist ein Schnee-Eis-Kälte-Salz-Wind-Winter gemeint) nochmal aufs Rad kommt, ohne dass man es anschliessend reinigen muss wie ein Soldat den Kasernenboden. Die letzte Ausfahrt der Saison muss aber besinnlich begangen werden. Schliesslich handelt es sich um einen Abschied für längere Zeit. Dazu ist zu sagen, dass ich in einer Gegend lebe, in der im Winter in der Regel nachts Frost herrscht, tagsüber häufig auch, Schnee liegt und die Strassen gesalzen werden. Wer nicht ausgesprochen gern oder zwanghaft sein Velo wöchentlich zerlegt, poliert und neu fettet, vergisst im Winter das Radfahren für ein Weilchen. Ausfahrten Ende November sind darum immer besonders. Sie sind friedlich, voller Melancholie und Abschiedsstimmung.
Unter diesen Rahmenbedingungen bin ich heute also die Kurzvariante meiner Feierabend-Trainingsrunde gefahren, einfach nachmittags. Obwohl ich die Runde kenne wie meine Trikottasche, kommt sie im November ganz anders daher. Die Felder sind abgeerntet und gekämmt für den Winter, die Krähen krähen, die Wolken hängen tiefer, die Bäume sind irgendwie kahler und die Kurven irgendwie ein bisschen eckiger. Die Strassen dröhnen zwar lauter (alle Autos fahren schon auf Winterreifen), aber abseits davon ist alles ruhig. Überhaupt ist die ganze Welt kahl, still und heruntergefahren. Schaut man in die Landschaft, sieht man nichts als eine einzige grosse, prächtige Kondolenzkarte und wird auf der Stelle demütig. Das ist auch gut so, dann tritt man weniger energisch in die Pedale, wodurch man weniger ins Schwitzen gerät in all den modernen, teuren Sachen, die man jeweils anhat.
Vor lauter Demut bemerkte ich leider nicht, dass die Wolken rasch dunkler und dichter wurden und überhaupt tiefer lagen. Dadurch wurde die andächtige Szenerie recht finster, und da ich meine Positionslichter vergessen hatte – als ich losrollte, war noch heiterer Herbsttag – bekam ich Muffensausen und machte kurz vor vier Uhr Kehrt, damit mich kein Autofahrer übersehen sollte.
Obwohl ich nur wenig mehr als eine Stunde unterwegs war, ist meine Radsaison nun abgeschlossen. Nicht tatsächlich, denn ich wäre der letzte, der eine Ausfahrt im Dezember auslassen würde, wenn das Wetter passt. Aber im Kopf habe ich abgeschlossen. Kein Drang mehr zum Kilometerspulen, nur noch Lust, durch die Gegend zu gondeln und das Rollen, die Umgebung und die Bewegung zu geniessen. Und jede Tour, die jetzt noch kommt, ist geschenkt und gleichzeitig irgendwie vom Winter geklaut. Und nächsten Frühling geht alles wieder von vorne los mit Drang zum Kilometerspulen. Und das ist auch recht so. Gut, gibt es Jahreszeiten.
PS: Gestern Abend fuhr ich mit mit meiner Tochter von einer Schulveranstaltung im Nachbardorf über die Felder nach Hause. Stockdunkle, eiskalte Nacht. Aber Sterne, Geraschel im Gebüsch, der Geruch von kalter Erde. Und zu Hause ein heisses Bad, von unterwegs mit klammen Fingern telefonisch bestellt.
Ein Gedanke zu “Was ist das Gegenteil von Winterblues?”