Ich habe an dieser Stelle bereits geschrieben, dass es mir eigentlich egal ist, ob Radrennfahrer gedopt sind oder nicht, solange ich nicht gegen sie antreten muss, was schliesslich so gut wie ausgeschlossen ist. Alles, was ich von einem Radrennen erwarte, ist Unterhaltung, Spannung und Heldengeschichten. Dem ist auch heute noch so. Im Moment allerdings kurven die Helden der Landstrasse in einem Wüstenstaat namens Katar herum, weil ja auch Petrodollars ab und zu unters Volk müssen, und da sind die Radprofis doch gern behilflich. Bloss ist die Katar-Rundfahrt nicht wirklich ein bedeutsames Rennen (ausser für die Finanzberater der Protagonisten vielleicht), was auch durch den Namen des frischgebackenen Gesamtsiegers unterstrichen wird: Niki Terprstra aus Holland. Wie im letzten Jahr. Wir gratulieren.
Wir müssen uns also noch ein Weilchen gedulden, bis mit den Frühjahrsklassikern wieder etwas Klasse ins Radsportgeschehen einkehrt. Denn auch die Verteilung der letzten Startplätze für Le Tour war ja nicht soo spannend.
Aber halt! Wer etwas für Heldengeschichten im Radrennsport übrig hat, und von ersteren lebt letzterer schliesslich, kann sich inzwischen an grossartigen Büchern weiden.
Dino Buzzati: Beim Giro d’Italia
Dieses Juwel von einem Radsportbuch haben wir dem Umstand zu verdanken, dass die italienische Zeitung Corriere della Sera im Jahr 1949 statt eines schlichten Schreiberlings einen gestandenen Reporter und Schriftsteller an den Giro d’Italia entsandte, um vom Renngeschehen zu berichten (warum auch immer ihr das getan habt: grazie mille!). Dino Buzzati hiess der Mann und war zu dem Zeitpunkt bereits als Kriegsberichterstatter und Romanautor bekannt. Buzzati berichtete also jeden Tag vom Rennen, ausser an den Montagen, weil da der Corriere nicht erschien. Seine Aufsätze sind nun auch auf deutsch in Buchform gepackt worden und erzählen eigentlich gar nicht gross vom Renngeschehen. Wen das interessiert, der kann die Resultattabellen im Anhang studieren. Buzzati aber schaute nicht bloss auf die Strasse, sondern auch in und hinter die Zuschauerreihen. Es war wie gesagt 1949, der Höhepunkt der epischen Rivalität zwischen Gino Bartali und Fausto Coppi, aber auch das vierte Jahr und der vierte Giro seit dem Ende des zweiten Weltkriegs. Und diese beiden Aspekte machen das Buch aus. Der Zweikampf zwischen dem älteren, unzugänglichen und mürrischen Bartali, dessen Stern am Sinken war, und dem jüngeren Coppi, weltgewandt und medienfreundlich, der vor dem Krieg bereits angefangen hatte, an Bartalis Thron zu sägen. Tag für Tag wird die Eröffnung des Duells von den Medien und den Zuschauern sehnlicher erwartet, aber die Masken fallen erst in den grossen Alpenetappen. Diese Auseinandersetzung spaltete die Nation in zwei Lager und hätte das Buch problemlos allein füllen können.
Aber damit hat sich Buzzzati nicht zufrieden gegeben. Er berichtet anlässlich dieser Reise von Sizilien den Stiefel hoch in die Alpen und nach Mailand (Transporte zwischen den Etappen gab es damals nicht, da wurde alles selbst gefahren, mit sieben von 19 Etappen über 250 km Länge!) hautnah über den Zustand einer kriegsversehrten Nation, die nach der Katastrophe erst wieder am Aufstehen ist. In einer sehr engagierten, gar nicht objektiven oder distanzierten, dafür mitreissenden Sprache beschreibt Buzzzati, was in den Köpfen oder eher Herzen der Tifosi am Rand der staubigen Strassen vorgeht, wie sie die Rennfahrer und ihre übermenschlichen Leistungen mehr bestaunen als bewundern und sich nach Heldengeschichten nicht kriegerischer Natur sehnen.
Buzzatis Etappenberichte geraten zum faszinierenden Zeitbild, aber sie eignen sich auch hervorragend als Einführung in die manchmal nicht ganz verständliche Faszination, die Etappenrennen ausüben können, wenn man einigermassen weiss, worum es geht. Und deshalb ist das Buch ein Segen für Radsportfreunde und für deren Verwandte und Bekannte, die ihnen bisher immer nur den Vogel gezeigt haben. Unbedingt lesen! Auf Covadonga ist irgendwie Verlass.

Dino Buzzati: Beim Giro d’Italia. Covadonga-Verlag, 2014, ISBN 978-3-936973-95-2
Richard Moore: Slaying The Badger
Das Buch mit dem Titel eines ordinären Splatter Movies ist momentan nicht auf deutsch erhältlich. Es hat mehr mit Menschen- als mit Tierquälerei zu tun, das aber richtig. Der Untertitel „GregLemond, Bernard Hinault And The Greatest Tour de France“ taugt durchaus zur Inhaltsangabe. Die Tour 1986 sah einen gnadenlosen Abnützungskampf der zwei grössten Sieganwärter – die ausserdem für dasselbe Team unterwegs waren. Die Rollenverteilung zwischen dem alternden Ex-aequo-Rekordsieger aus Frankreich und seinem jungen Assistenten aus dem Radsport-Niemandsland USA war am Start irgendwie klar, obwohl nicht wirklich kommuniziert. Der schroffe Bretone, Patron alter Schule, hatte seinen fünften Toursieg im Vorjahr nur dank der aufopfernden Hilfe LeMonds geschafft und diesem dann spontan seine Dienste auf dem Weg zu dessen ersten Toursieg zugesagt. Später muss ihm dann gedämmert haben, dass er stattdessen auch auf eigene Rechnung fahren und alleiniger Rekordsieger werden könnte. Die beiden kriegten sich dann in die Haare und wechselten sich mehrmals an der Spitze des Klassementes ab, lieferten sich mal einen offenen Schlagabtausch und zeigten sich dann wieder als organisierte Teamleader. Der Verlauf der Geschichte bietet alles, was diese Ausgangslage verspricht. Eine ähnliche Konstellation wie zwischen Bartali und Coppi, aber in einer ganz anderen Epoche des Sportes und damit vor einem ganz anderen Hintergrund ablaufend. Wie in einem Mantel- und-Degen-Film geht es hier um Loyalität, Verrat, Lüge, Macht und Geld. Ein wahrhafter Krimi. Unbedingt lesen!
Der amerikanische Sportjournalist Moore konzentriert sich mangels weltgeschichtlichem Hintergrund auf die Rennfahrer, was aber ausreichend interessant ist. Er besuchte beide Fahrer über zwanzig Jahre später und befragte sie und andere Beteiligte nach ihrer Version der Geschichte. Und der Leser wird den Verdacht nicht los, dass die Leute seither nie mehr miteinander gesprochen haben. Die Tour 1986 war vielleicht wirklich eine der grössten (wobei die von 1989, wieder mit LeMond in einer der Hauptrollen, auch nicht von schlechten Eltern war), für Schweizer Radsportfans natürlich sowieso eine besondere, weil erstmals in der Neuzeit ein Schweizer aufs Podest fuhr. Urs Zimmermann war das. Ist aber ein Nebenschauplatz.

Richard Moore: Slaying The Badger. Velo Press, 2011, ISBN 1-934030-87-2
Ein Gedanke zu “Heldengeschichten. Hach, Heldengeschichten!”