Es gibt Leute, die leben heutzutage noch nach den Rythmen der Natur. Tag und Nacht, sicher, da machen die meisten von uns mit, die über 25 sind. Schon die Jahreszeiten sind aber ziemlich aus der Mode gekommen: Badeferien über Weihnachten, Herbstmodeschau im Frühling, knackige, rote Erdbeeren durchs ganze Jahr hindurch. Mir persönlich sind die Leute sympathischer, die noch etwas altmodisch warme Sachen anziehen, wenn es kühl wird, oder Radieschen ansäen im Frühling. Sich eine Einkaufsliste machen, statt aus dem Supermarkt nach Hause anzurufen. Solche Sachen finde ich irgendwie heimelig und ursprünglich, das gibt mir ein bisschen eine Leitlinie in unserer beliebigen Zeit, wo man jederzeit alles machen kann, was man will – wenn man denn weiss, was man will, aber das ist eine andere Geschichte.
Es gibt aber auch Leute, die halten sich für meinen Geschmack zu sehr an vorgegebene Strukturen. Ich habe zum Beispiel einen Velofreund, mit dem ich oft nach Feierabend oder am Wochenende Bike- oder Rennvelotouren unternehme, der sagte mir doch neulich: Nein, er komme nicht mehr mit auf eine Sonntagsrunde, seine Saison sei abgeschlossen, es sei ja schliesslich Oktober. Er könne sich nicht mehr motivieren, das Velo aus dem Keller zu holen. Kälte und so, früh dunkel. (Wörtlich sagte er: «Ich habe die Nase voll.» Wirklich.)
Ich also ohne ihn los am letzten Sonntag. Und das wurde die Ausfahrt des Jahres, wenn ich da eine bestimmen müsste. Der Wind, der sonst immer röhrt in unserem Tal, säuselte nur. Die Blätter waren bunter als Kleider in der Waschmittelwerbung, die vielen Rebberge entlang der Strecke waren abgelesen, und das Sonnenlicht war mild. Ich kurbelte gleichmässig und zufrieden durch die Gegend und überlegte, wie ich meine Freizeit im kommenden Winter sinnvoll nutzen könnte – falls er dann wirklich kommen würde, der Winter. Kurz: wer als Radfahrer da nicht zufrieden war mit sich und der Welt, der würde es niemals sein. Ich bringe es fast nicht übers Herz, meinem Freund zu erzählen, was er da verpasst hat. Zum Glück weiss er nichts von diesem Blog. Aber nächstes Jahr kriegt er nochmals eine Chance für someine Herbsttour.
Solche Ausfahrten spät im Jahr – egal, ob mit dem Bike, dem Rennvelo oder dem Einrad – sind die späte Krönung jeder Velosaison. Sie sind wie der Siegtreffer in der Verlängerung. Der Süsswein zur Abrundung eines Fünfgängers. Das IKEA-Sofa, das mehr als vier Jahre hält und immer noch anständig aussieht. Der Erwartungsdruck, fit werden, Kilometer fressen oder das Touren-Highlight des Jahres erleben zu müssen, ist weg. Die Kilometer, die man jetzt nicht gefahren hat, fährt man nämlich Ende Oktober auch nicht mehr (siehe unten). Die heimlichen Rivalen von der Montagsrunde haben ihre Räder teilweise schon eingestellt (siehe oben) und widmen sich anderen Ablenkungen vom Alltag. Nein, wer jetzt unterwegs ist, der macht das ganz allein zum Spass, um den Moment zu geniessen, in der Intensität, die ihm die Beine vorgeben, und nicht der Kopf.
Grund genug also, trockenes Wetter auch im November noch zu nutzen, die warme Hightech-Velobekleidung endlich mal ihrer Bestimmmung zuzuführen und einfach loszufahren. Mal am Wochenende auf die mittellange Runde gehen statt nach Feierabend. Einfach rollen lassen. Mir persönlich macht das besonders Spass, weil ich seit einigen Jahren nicht mehr wirklich einem geregelten Training mit Struktur und Phasen und Kontrollen nachgehe. Mit dem Nebeneffekt, dass ich im Herbst einfach automatisch am fittesten bin (am wenigsten unfit, eher), weil sich bis dahin am meisten Kilometer zusammengeläppert haben.
Während ich mich also an jenem Sonntag ganz entspannt der süssen Saison-End-Melancholie hingab und die gelbroten Wälder genoss, tat ich, was ich in solchen Situationen immer tue: ich liess meine Gedanken schweifen, wohin sie wollten (ich bilde mir ein, auch im Autopilot, einigermassen sicher über Land radeln zu können), und da fiel mir Rainer Maria Rilke ein. «Herbsttag» heisst eines seiner bekannteren Gedichte. Ich musste es früh in meiner Schulkarriere mal auswendig lernen, mochte es nicht und entdeckte es erst viel später für mich. Teile davon brachte ich wieder zusammen, und mir dämmerte, dass Rilke ein Velofahrer gewesen sein muss. Immerhin war er ein junger Mann, als das Velo seine erste grosse Blüteezeit erlebte, kurz vor der vorletzten Jahrhundertwende. Und bei den Ideen, die inem Schmalspurdenker wie mir jeweils im Sattel kommen sind, was muss dem Rilke alles an Versen, Reimen und Metaphern eingefallen sein! Ich weiss nicht, was gestandene Rilke-Biografen darüber denken, aber ich glaube an den radelnden Rilke. Um meine Hypothese zu belegen, werde ich hier und jetzt das Gedicht „Herbsttag“ neu deuten. Jetzt endlich verstehe ich nämlich, was Rilke wirklich sagen wollte. Das wird dann sicher alle überzeugen. Räusper:
Herbsttag
Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.
(War keine schlechte Saison: 4’000 Kilometer, und das auf dem neuen Fahrrad mit zwei gleich grossen Rädern. Aber mit der Zeitmesserei beim Üben ist jetzt Schluss. Sollen die andern vom Velozipedisten doch allein fahren, wenn sie hetzen wollen. Sie sehen ja dann, wo sie hin kommen ohne meinen Windschatten.)
Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gieb ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.
(Sollen die ganzen verbissenen Gümmeler doch nochmals nach Mallorca fahren, wenn sie noch nicht genug Kilometer gefressen haben. Ich setz mich in die Gartenwirtschaft und sprech dem Rheinwein zu.)
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.
(Die Kilometer, die ich jetzt noch nicht in den Beinen hab, hole ich nun auch nicht mehr auf. Irgendwie blöd aber, dass ich mich im September noch mit den Jungs vom Velozipedistenbund verkracht habe. Na dann, muss ich halt allein durchs Wintertraining. Vielleicht schreib ich aber auch endlich mal einen Leserbrief ans Cyclist’s Journal. Oder ich versuche, ein bisschen Form durch marschieren zu behalten statt mit den blöden Vollgummireifen durch den Schneematsch zu gurken.)
Und? Überzeugt? Übrigens, wenn der Winter wirklich kommen sollte, lass ich das Velo auch mal im Keller und lese nach, was der alte Homer in seiner Odyssee eigentlich so übers Velofahren geschrieben hat, zwischen den Zeilen.
2 Gedanken zu “Rilke für Radler”