Wozu Velo fahren, wenn man auch darüber nachdenken kann?

Alle hatten den Schnee vermisst, und dann kam er, als sich alle bereits darüber klar geworden waren, dass sie das tägliche Velofahren eigentlich schon viel länger vermisst hatten als den Schnee und darum auf den Schnee zu pfeifen begannen. In grossen, pelzigen Flocken fiel er vom Himmel und hüllte alles in einen kühlen, feuchten Mantel, auch die schönen Wege im Wald und die Velowege. Meine Frau sass auf der Couch am Fenster, schaute mit entrücktem Lächeln ins Flockenuniversum hinaus und gab eine Weisheit von sich, die mich in ihrer Einfachheit und Klarheit beschämte, weil ich doch der von uns beiden bin, der einen Blog vor sich her schiebt und immer wieder verzweifelt nach Weisheiten sucht. Sie also sagte: „Der Schnee ist so wunderschön. Allen gefällt er, und keiner kann ihn sich kaufen.“

Wau, dachte ich, was ist dem noch hinzuzufügen? Ich gab mir gleich selbst die Antwort: „So einiges!“ und rannte zur Schreibmaschine. Ich hatte realisiert, dass ich immer wieder die genau gleiche Erfahrung mache wie meine Frau, wenn sie den fallenden Schneeflocken zuschaut: Wenn ich mit Rückenwind eine Strasse entlangfahre, schnell und mühelos und leise. Wenn ich abgekämpft eine Passhöhe erreiche und mich umschaue, ins Tal hinunter blicke. Wenn ich einen Waldweg erwische, der gerade schön aussieht wegen der tief stehenden Sonne und den richtigen Schwierigkeitsgrad hat für mich, so dass ich rollen und kurven und gleichzeitig den Wald geniessen kann. Oder auch wenn ich nachts im Dunkeln ohne Licht nach Hause fahre und die Umgebung, nur halb sichtbar für mich, an mir vorbeizieht, so dass ich keine Ahnung habe, wie schnell ich unterwegs bin und ob ich schon fliege oder noch fahre. Diese Momente liegen für alle zum Abholen bereit, aber kaufen kann sie sich keiner.

Zwei meiner Online-Helden haben Aspekte solcher Momente auf ihre Weise ausgedrückt.

Der eine ist Rivendell Bicycle Works, die Stahlrahmenschmiede aus Kalifornien. Auf Instagram (@rivbike) schreibt der Firmengründer Grant Petersen immer wieder kurze bicycle sentences. Das sind Weisheiten zum Velo und zum Velofahren, manchmal kommen sie etwas oberlehrerhaft daher, meistens sind sie aufschlussreich und regen zum Denken an. Am 9.3.2023 stand da:

Auf Erwachsene trifft das natürlich ebenso sehr zu, und eigentlich ist es nur eine gleichzeitig spezifizierte und verallgemeinerte Ausdrucksweise von so banalen Redensarten wie Ohne Fleiss kein Preis, die man in ihrer moraltriefenden Ursprungsform längst nicht mehr hören mag.

Schon länger her ist es, dass der diskussionslos grossartigste velothemenzentrierte Blog im ganzen grossen Internet das eingangs beschriebene Hochgefühl beim Velofahren in einem einzigen und erst noch kurzen Satz kondensierte: There’s great dignity in coasting. Mit coasting ist das Fahren im Freilauf gemeint, also das Dahinrollen ohne zu treten. In der Tat eines der intensivsten Gefühle der Erhabenheit und Würde, die ein Mensch vor dem Tod erleben kann (womit nicht gemeint ist, dass es nach dem Tod noch besser wird, aber wer weiss das schon?). Das geht am einfachsten auf einer leicht abwärts geneigten Strecke oder eben mit Rückenwind, und ein klein wenig kann die Intensität gesteigert werden, indem man freihändig fährt. Gelegentlich stellt sich das Gefühl ein, anderen Menschen rundherum überlegen zu sein, den Autofahrern, weil sie ein Auto brauchen und das coasting nicht erleben können, und den Fussgängerinnen, weil sie per se nicht dahingleiten können, ohne zu schreiten. Das ist natürlich oberflächlicher Unsinn, dieses Gefühl, aber Spass macht es dennoch.

Das coasting impliziert natürlich, dass man, um das Gefühl auskosten zu können, erst mal etwas investieren muss. Nämlich eine Steigung hochzufahren oder den Ort und den Moment zu finden, wo gerade ausreichend starker und anhaltender Rückenwind herrscht. So gesehen unterscheidet sich das Velofahren vom Schneefall dadurch, dass man sich die Freude beim einen kaufen kann und beim andern nicht. Ob das nun ein Vorteil oder ein Nachteil ist, müssen alle für sich selbst entscheiden. Mir wird das langsam zu philosophisch.

Aber wenn wir schon beim Philosphieren sind: Geht die Würde des coasting den Bach runter, wenn ich mit einem E-Bike den Hügel hochgefahren bin?

Falls dir solche Erfahrungen überhaupt komplett fremd sind, gibt es nur eines: Such dir ein Velo und fahr es. Viel Spass, chapeau und just ride!

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