[Velo-Moment, der: Ein Erlebnis, eine Einsicht, Erfahrung oder Erinnerung, das bzw. die im weitesten Sinn in Zusammenhang mit einem Velo oder einer Velofahrt entstanden ist.]
Velomomente sind in den letzten Monaten etwas vergessen gegangen hier. Aber nur ihre Niederschrift, nicht ihre Produktion, da könnt ihr ganz beruhigt sein:

Von meinem Dorf zum nächsten führt eine Flurstrasse, die benutze ich für den täglichen Arbeitsweg ebenso wie für mein Training auf dem Rennvelo. Sie ist flach, gerade, asphaltiert und frei von motorisiertem Verkehr. Ausserdem verläuft darauf eine nationale Veloland-Route, weshalb ich dort schon oft mit Veloreisenden aus aller Herrinnen Länder ins Gespräch gekommen bin. Und was ist die Bedeutung davon, dass sie zwischen zwei Dörfern verläuft? Klar: an schönen Sonntagnachmittagen, besonders im Frühling, steppt dort der Bär, und alles, was gehen kann, geht dort, was Rollen hat rollt, und was meine Lust hat, sitzt auch mal. Interessant: Ein Betrieb wie im Stadtzentrum, aber zwischen Dörfern auf dem Land. Eines schönen Sonntages werde ich dort eine Pop-Up-Wirtschaft aufpoppen, und lange bevor die Gewerbepolizei – sicherlich alarmiert von ein paar Hobby-Landjägern – sich durch die Menge tanken kann, um mich zu büssen, werde ich ausverkauft und abgezogen sein.
Wegen dem regen Treiben meide ich die Strasse inzwischen an Sonntagnachmittagen. Vor der Pandemie aber habe ich mich noch hingetraut. Jener Sonntag war nämlich etwas kühl und windig, ich war schon eher spät dran, und ausser mir nur noch drei weitere Personen unterwegs. Ich sah sie schon von Weitem stehen. Eine Frau stand neben ihrem Fahrrad, darauf im Kindersitz ein Kind, ein zweites, ein vielleicht vierjähriges Mädchen, stand daneben mit ihrem Kindervelo. Zwei der drei sahen abgekämpft aus (das kleinere Kind schlief in seinem Sitz – durchaus möglich, dass es sogar am abgekämpftesten von allen war, wer kann das heute noch sagen). Als ich ganz nah bei ihnen war, fiel mir der müde, leicht resignierte Gesichtsausdruck der Frau auf, und auch ihre Tochter wirkte nicht so, als ob sie noch viel von diesem Tag erwarten würde.
Obwohl sie mich nicht herangewinkt hatten, hielt ich an und fragte, ob alles in Ordnung sei. Ich kann mich nicht erinnern, was sie sagte, es war jedenfalls keine konkrete Problemstellung. Also schaute ich mir das Kindervelo an, mit einem Fuss noch eingeklickt. Die Kette war herausgesprungen und hatte sich zwischen Rahmen und Ritzel verklemmt. MIt den Fingerspitzen – ich trug ja Velohandschuhe – zog ich die Kette raus, legte sie wieder auf und einen kleinen Gang ein und drehte an der Kurbel. Das Kind schaute hoffnungsvoll zu einer Mutter auf, diese bedankte sich knapp, und ich fuhr weiter.
Ich habe keine Ahnung, ob ich der Frau eine grosse Hilfe war, ob sie wirklich so müde und überfordert war, wie sie aussah. Gut möglich, dass sie Velomechanikerin-Instruktorin ist und gerade dabei war, das kleine Kind aus dem Sitz zu hieven, damit es nicht mit dem Velo zusammen hinfallen konnte, während sie die Kette einlegte. Ich war jedenfalls überzeugt, ihr und mindestens einem ihrer Kinder geholfen zu haben, und war sehr zufrieden mit mir, gerade, weil es ein verschwindend kleiner Aufwand war für mich, ihnen aber bestimmt den Sonntagsausflug gerettet hat. Und wenn jemand Kenntnis von einer anderen Faktenlage hat: will ich gar nicht wissen! Diese halbe Minute hat mein ansonsten eher monotones und ereignisarmes Training an jenem Sonntag besonders gemacht. Zu einem Velomoment, eben. Punkt.