Velofahren war gestern, wäre es aber heute mindestens so sehr.

Letzten Herbst ist im Magazin des Tagesanzeigers ein Interview mit der Schweizer Fotografin Sabine Weiss erschienen. Weiss, geboren 1924, ist in der Gegend von Genf aufgewachsen, hat später in Paris gelebt und dort als Fotografin Karriere gemacht, obwohl es die Nachkriegsjahre waren und sie eine Frau.

Sabine Weiss erzählte von Velotouren „quer durch die Schweiz“, die sie während Ihrer Schulferien unternommen hatte. Das muss kurz vor dem letzten Weltkrieg gewesen sein. Als sie mit einer Freundin von Genf ans Luzerner Musikfestival wollte, unternahm die Reise mit dem Fahrrad, da sie nicht genug Geld für ein Zugticket besass. Die Musik, die sie dann erlebte, löste in ihr etwas aus, also fuhr sie nach dem Festival nicht nach Genf zurück, sondern radelte weiter durch die Schweiz und verbrachte mehrere Jahre als Au-pair in Thalwil. Damit war sie von zu Hause ausgezogen, mit „nur ihrem Velo und einem kleinen Rucksack“. Das Velofahren war nicht Gegenstand des Gesprächs, sie erwähnte es nur beiläufig (bloss an einer Stelle wunderte sie sich selber, wie weit es wohl gewesen sein möge von Genf bis Luzern). Vor wenigen Wochen, einige Wochen nach dem Erscheinen des Interviews, ist Sabine Weiss verstorben.

Mir kam während der Lektüre eine Fotografie in den Sinn, die hier einmal besprochen worden ist, und das Fahrrad wirkte wieder einmal als Zeitmaschine.

Am Klausenpass, 1927 (aus dem Buch Saumpfad Lini Speedway. Die Erschliessung des Klausenpasses“ von Marion Sauter. Edition Typoundso, Emmenbrücke, 2016) 

Fahrradreisen wie jene von Sabine Weiss, nicht als Selbstzweck, sondern mangels bezahlbarer Alternativen, waren früher nicht ungewöhnlich. So fuhr meine Mutter als Sechzehnjährige Ende der Fünfzigerjahre allein von ihrem Zuhause am unteren Zürichsee mit ihrem Dreigangfahrrad ins obere Toggenburg, um ihre Cousins und Cousinen zu besuchen. Ihr Gepäck transportierte sie in ihrem Koffer auf dem Gepäckträger. Ursprünglich war der Plan zwar gewesen, bis an den Bodensee zu ihrer Patentante zu radeln, doch zufälligerweise kam sie eben vorher bei ihren Cousinen vorbei, wo sie der Einfachheit halber dann halt blieb für den Rest ihrer Ferien.

Ich habe in den Fünfzigerjahren ja noch längst nicht gelebt, aber ich bin überzeugt: heute ist Velofahren bedeutend einfacher als damals. Die Velos sind leichter und zuverlässiger, es gibt da und dort Radwege, welche den stark gewachsenen Autoverkehr etwas kompensieren, die Wegweisung ist sicher besser, und verfährt man sich dennoch einmal, ist ein Smartphone zur Hand, um einen zurück auf den rechten Weg zu führen. (Zu Kriegszeiten waren die Wegweiser sogar demontiert worden, um allfällig einmarschierenden Truppen das Leben nicht zu leicht zu machen!) Eine Übernachtung ist heute in drei Minuten unterwegs gebucht, und die lieben Verwandten zu Hause sind auch immer im Bild, wo man sich gerade aufhält. NIchts leichter als eine Fahrradreise!

Zu sagen, die Ferienreise meiner Mutter hätte mich geprägt, wäre masslos übertrieben. Aber immerhin bin ich sechzig Jahre später ebenfalls mit dem Fahrrad von zu Hause ins Toggenburg in die Sommerferien gefahren. Meine Kinder und meine Frau mussten auch mit, dafür durften sie aber den Inhalt ihrer Koffer in den Anhänger schütten, der an meinem Velo hing. Wegen der dreitägigen Anfahrt (mit dem öffentlichen Verkehr hätte die Reise zur Ferienunterkunft knappe zwei Stunden gedauert, aber für die letzte Meile noch ein Taxi erfordert) wurden das äusserst erlebnisreiche Familienferien. Am ersten Tag gingen wir unterwegs dreimal schwimmen und entkamen einem abendlichen Gewitterregen nur mit mit einem langgezogenen Sprint. Am nächsten Tag setzten wir uns in ein Schiff aus Beton und rollten durch einen ehemaligen SBB-Tunnel, und den Pass Ricken unterquerten wir am dritten Tag frohen Mutes im Zug.

Das klingt alles sehr rückwärtsgewandt, ich weiss. So wie Wählscheibentelefon und Vinyl-Schallplatten (die, abgesehen davon, gerade wieder gross im Zurückkommen sind). Nach Landstrasse statt Autobahn und Kursbuch statt Fahrplan-App. Doch vor dem Hintergrund von mit Autos vollgestellten Städten, überteuerten Parkplätzen und dem galoppierenden Klimawandel erscheint Velofahren nicht mehr ganz so altmodisch. Eigentlich ist es krass progressiv, ein Akt der Revolution, gar, nicht? Velofahren wäre also für alle das Gebot der Stunde, würde man meinen. Für jene, die sich rückbesinnen wollen auf das Wesentliche, Schlichte oder Traditionelle ebenso wie für die Smartisten, die sich gern effizient und technologiebeflissen durchs Leben schlängeln. Sie alle werden allerdings ausgebremst von Planern und Politikern, die immer noch Strassen und Städte für das Auto allein planen, weil das ja schon seit dem Krieg ihre Aufabe gewesen ist. Überdenken tun das die wenigsten. Wie rückwärtsgewandt ist das denn?

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