Das Beitragsbild habe ich im Bildband „Saumpfad Lini Speedway. Die Erschliessung des Klausenpasses“ von Marion Sauter (Edition Typoundso, Emmenbrücke, 2016) gefunden. Es ist eines von ganz wenigen Farbbildern in dem Buch, und laut Bildlegende ist es das erste bekannte Farbfoto, das im Kanton Uri aufgenommen wurde. Aber nicht nur darum sticht dieses Foto ins Auge, wenn man das sonst in Schwarzweiss gehaltene spektakuläre Klausenbuch durchblättert. Schauen Sie es sich ruhig genauer an:
Kein Belag – keine Autos – kein Lycra. Allein diese drei Punkte wären heute mehr als ungewöhnlich auf einer Passstrasse in den Alpen, an einem sonnigen Sommertag.
Bei solchen Bildern werde ich noch stärker zum Nostalgiker, als den mich ein guter Teil meines Umfeldes sieht, weil ich weder ein Auto noch ein E-Bike besitze. Ich stelle mir dann gern den Mann, der mich übrigens an Tim, den Reporter erinnert, vor, wie er vor Anbruch der Dämmerung aufs Rad steigt und losfährt. Ein Gang, Stempelbremse, Alltagskleidung und so weiter. Stahlrahmen nur der Vorname. Google Earth (kenn ich also schon!) sagt mir rasch, dass das Foto auf der Glarner Seite des Passes aufgenommen wurde, kurz nach der ersten Serie von Haarnadelkurven. Er also nichts wie los in die kühle Morgenluft des Industriestädtchens Glarus. Einfahren bis zum Ende des Tals, wo es zur Sache gehen wird. Ab und zu wischt er sich mit seinem Taschentuch den Schweiss aus der Stirn, isst kurz vor Linthal das Schinkenbrot, das er sich von zu Hause mitgebracht hat, und als er in Linthal ankommt, wo die ab hier nicht mehr asphaltierte Strasse in den Himmel schiesst, leistet er sich im Angesicht des übergross erscheinenden Passes einen sauren Most (damals wohl nur mit Alkohol erhältlich). Gut möglich, dass ihn dieser Most ihn zu dem abgebildeten Halt gezwungen hat. Via Blase oder Kopf, wie auch immer. So weit es seine Form zulässt, fährt er, die steileren Passagen schiebt er. Ab und zu ein Auto, aus dem wohlsituierte Herrschaften anerkennend nicken und grüssen. Der Mehrzahl der Fahrzeuge, Pferdefuhrwerke, begegnet er nur im Gegenverkehr, da er in etwa gleich schnell unterwegs ist wie sie. Das wird sich in der Abfahrt ändern, meine Herren! Doch bis da hin ist es noch weit. Überlassen wir Tim seinem Leiden und seinem Genuss vor dem majestätischen Panorama weitgehend unbekannter Gipfel. Gut, den Clariden mag der eine oder die andere kennen. Meine ersten Tourenskier hiessen so. Aber kennen Sie etwa den Glatten, 2’504 müM? Eben. Von der Abfahrt möchten wir alle lieber keine Details wissen.
Das Bild vom Klausenpass hat mich auch an eine Geschichte erinnert, die mir meine Mutter vor Jahrzehnten erzählt hat. Ich wollte sie zuerst gar nicht recht glauben, und sie liess mich, damals ein trotzender und protzender Pubertätler, meine Mutter in einem neuen Licht sehen. Ich hatte eben mein erstes Rennrad bekommen, Velotouren hatte ich gerade erfunden, und der Horizont meines jungen Lebens wurde täglich weiter. Und dann erzählte mir meine Erzieherin, sie habe in ihrer Jugend selber Velotouren unternommen. Unerhört im Sinne von nie vorher gehört war das! Mitte der Fünfzigerjahre war es gewesen, sie wollte für ein paar Tage ihre Gotte (Taufpatin, die Red.) besuchen und benutzte dazu aus wirtschaftlichen Gründen ihr Fahrrad, das ihr ihre Eltern im Jahr zuvor als Belohnung für eine bestandene Aufnahmeprüfung geschenkt hatten. Ihr Gepäck verstaute sie in ihrem Koffer, welchen sie auf den Gepäckträger schnallte. Es war Mitte der Fünfzigerjahre, meine Mutter war vierzehn und wohnte am unteren Zürichsee, ihre Gotte im hinteren Toggenburg. Keine einfache Städtereise, das hört man diesen Namen an, auch wenn die Strassen inzwischen geteert waren, denn die Velos waren noch nicht gefedert. Es war und ist eine Reise von 55 km durch eine von tiefen Tobeln durchfurchten Hügellandschaft. Zwei Voralpenpässe und total tausend Höhenmeter. Eine Tagesreise war geplant. Im Schlussaufstieg am späteren Nachmittag, sie schob ihr Rad, grüssten sie Kinder aus einem Haus unweit der Strasse und fragten sie nach dem Woher und Wohin. Schnell stellte sich heraus, dass es sich bei den Kindern um die Cousinen und Cousins meiner Mutter handelte. Diese nahmen ihr den Koffer und das Fahrrad ab, und ebenso schnell war der Plan gemacht, dass sie die Nacht hier verbringen würde. Man sah sich ja sonst kaum. Erst die am Abend heimkehrenden Eltern kamen auf die Idee, dass die Gotte noch zu verständigen sei, damit sie sich keine Sorgen über das ausbleibende Kind mache. Am nächsten Tag reiste meine Mutter dann weiter, konnte aber aushandeln, dass eine ihrer Cousinen sie für die Ferientage zu ihrer Gotte begleiten durfte, da deren Kinder bereits ausgezogen und damit keine Gesellschaft waren. Ich staunte damals sehr, dass ich dieses Fahrrad, roter Dreigänger mit Rockschutz aus elastischen Fäden, noch wenige Jahre zuvor in unserem Veloraum gesehen hatte, obwohl es aus einer für mich so unendlich fernen Zeit stammte! Den Koffer besass inzwischen ich, um meine letzten Spielsachen darin aufzubewahren.
Dieses Fahrrad hatte also damals meiner Mutter die Reise über die Grenzen ihrer Alltagswelt hinaus ermöglicht, und mir die Grenzen meiner Wahrnehmung von Raum und Zeit verschoben. Heute wiederum staune ich über die Unbeschwertheit, mit der meine Grosseltern ihre Teenager-Tochter allein auf die Reise schickten. Ich bin, behaupte ich gerne, kein Sicherheitsfanatiker, sondern versuche einfach, Risiken sachlich einzuschätzen. Trotzdem bin ich nicht sicher, ob ich meine heute ebenfalls vierzehnjährige Tochter alleine auf eine solche Reise schicken würde. Ich hoffe es sehr, auch wenn die Gefahren auf der Strasse heute ungleich grösser sind wegen dem Verkehr, der sich seither vervielfacht hat. Aber meine Tochter ist ja in dieser Zeit aufgewachsen, kennt sich im Verkehr aus und hat ein Smartphone. Und sie fährt mit Helm! Ausserdem weiss sie und kann sie alles, womit der Kreis zu mir selbst als Teenager, als ich die Geschichte der Toggenburg-Fahrt meiner Mutter erstmals hörte, prächtig schliesst.
Man muss aber kein Nostalgiker sein, um Fahrradreisen zu mögen. Im Gegenteil, Velotouren aller Länge sind heute viel einfacher und sicherer als damals. Wichtig ist, sich heute durch Veloreisen Erinnerungen zu schaffen, anhand derer man in ein paar Jahrzehnten nostalgisch werden und Geschichten für Kinder und Enkel erzählen kann. Ob das Reisen zur Verwandtschaft auf dem Land sind, ein Flowtrail in den Alpen, ein Cruise über einen feuchten, festen Sandstrand, ein Gewitter auf dem Nachhauseweg vom Kino oder eine Indienreise sind: egal! Das Velo ist eine Freiheits- und Zeitmaschine. Draufsetzen und loszischen!
Ein Gedanke zu “Das Fahrrad ist eine Zeitmaschine.”