Radfahren seltsam

Das folgende Foto hat mir kürzlich eine liebe Freundin zugeschickt. Sie fand es lustig. Ich fand es im ersten Moment unauffällig.

Brave new world.

Erst Wochen später entdeckte ich das Bild wieder auf meinem Smartphone und schaute es genauer an. Es ist von grosser Symbolkraft und illustriert treffend das Verhältnis vieler Menschen zum Velo: Sie betrachten es als Sportgerät. Dazu passt übrigens auch ein Bild aus dem Boneshaker Magazine (schnirpf), ich habe es gerahmt und in meinem Büro an die Wand gehängt:

Quelle: Boneshaker Magazine

Ich gebe gerne zu, dass ich selbst ein langjähriger Rollenpilot bin. Nach der Geburt unseres ersten Kindes legte ich mir – damals Rennvelofahrer seit zwanzig Jahren – einen Rollentrainer zu, um die raren Momente, in denen ich unbeobachtet war, zur körperlichen Ertüchtigung zu nutzen. Beispielsweise um ein Uhr nachts, als das kleine Gör endlich eingeschlafen war. Als ich den Rollentrainer einmal meinem Schwiegervater vorführte, lachte er trocken und sagte: »So krank!» Womit er ja nicht vollkommen unrecht hat, er ist nämlich ein weiser Mann. Mein loyales Weib sprang mir aber sofort bei und erklärte ihm, wie sehr mir das Gerät helfen würde, Vaterschaft und Bewegungsdrang unter einen Hut zu bringen Das leuchtete ihm ein. Oder wenigstens tat er so.

Bis heute verbringe ich jeden Winter rund zwanzig Stunden auf der Rolle und schaue dazu fern (am liebsten Sachen aus der arte-Mediathek, die leider völlig zu Unrecht als elitär oder versnobt verschrien ist). Ich mache also auf den ersten Blick dasselbe wie die beiden auf dem Bild. Und doch kann ich nicht anders, als die Szene oben mit „entartet“ zu beschreiben. Eine feine Linie, gewiss. Ich versuche zu erklären.

  1. Purer Pragmatismus: Ich zahle keine Abo-Gebühr, sondern beschäftige mich einfach während dem Fernsehschauen.
  2. Üblicher Überlebenswille: Ich mache ich das wirklich nur dann, wenn lebensechtes Velofahren wegen unserem kontinentalen Klima nicht möglich oder lebensgefährlich ist.
  3. Demütiges Dauerkurbeln: Ich verfolge nicht irgendwelche Velofahrer auf dem Grossbildschirm, um mich zu motivieren. Das meditative Kurbeln allein ist mir genug, im Wissen, dass nach den festtäglichen Exzessen sowieso Training im Grundlagenbereich angesagt ist.
  4. Bürgerliche Bescheidenheit: Mein Bildschirm ist viel kleiner.

Ich bin den beiden im Bild also moralisch überlegen. Verstanden?! Warum? Ist doch toll, sagen Sie, wenn die Leute sich bewegen und so etwas gegen schlechte Laune, Übergewicht und Herzinfarkt tun. Sicher! Aber warum in aller Welt verstümmeln sie dazu ein Velo? Fahrräder sind doch wie Wildpferde: Geboren, um in Freiheit herumzurennen, von hier bis zum Horizont. Born to Run. Werden sie eingesperrt, gehen sie jämmerlich zugrunde. Wer ein Pferd nicht regelmässig ausreiten kann, der tut sich einfach keines zu! Wem käme es denn in den Sinn, seinem Pferd die Beine abzuschneiden, damit sie es im Wohnzimmer oder in einem Fitness-Studio „reiten“ kann? Genau das ist nämlich ein Ergotrainer: ein Pferd mit abgeschnittenen Beinen.

Und mit diesem schönen Gedanken entlasse ich Sie nun zum Fitnessprogramm.

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