Velofahrer unter sich
Als Velofahrerin und Velofahrer in der Schweiz kennt man einander, könnte man meinen. Man ist ja unter sich, weil kaum einer im Alltag Velo fährt. Die wenigen, die es trotzdem tun, konzentrieren sich auf der sehr dünn angelegten Veloinfrastruktur, könnte man meinen, und daher kennt man einander. Ist aber nicht so. Ich fahre täglich mehr als zwanzig Kilometer an meinen Arbeitsplatz und zurück, aber es gibt genau eine Person, die mir dabei regelmässig begegnet. Dennoch grüsse ich alle, die mir entgegenkommen, die ich überhole oder die mich überholen. Einfach, weil wir doch eine kleine, verschworene Minderheit sind. Beim Autofahren tut das niemand, und das ist nichts als vernünftig.
Die Faktenlage
Im Lauf der Jahre ist mir aufgefallen, dass der Anteil der Grüssenden unter den Velofahrern MIT Elektroantrieb geringer zu sein scheint als der Anteil der Grüssenden unter den Velofahrern OHNE Elektroantrieb (alle denkbaren Geschlechter sind mitgemeint). In der Tat tendiert der Anteil grüssender E-Biker gegen null, besonders heftig unter den E-Bikern mit Tretunterstützung bis 45 km/h.
Das ist nur ein Eindruck. Zwar habe ich einige Tage lang gezählt, dann aber wieder aufgehört damit, obwohl eine tiefe einstellige Zahl ja leicht zu merken gewesen wäre. Die Datenbasis ist inzwischen zwar nicht solider, aber immerhin grösser geworden: „schnelle“ E-Biker grüssen dich so gut wie nie, auch wenn sie in derselben Richtung unterwegs sind, dich also überholen. Und beim Überholen hätten sie genug Zeit dazu, finde ich.
Ich komme mir dann – so vollständig ungegrüsst – immer ein wenig vor wie Kuno Lauener, Frontmann der Berner Mundart-Rockband Züri West. Im Song „Schmocker oder Schmid“ auf dem sehr stimmigen Album „Göteborg“ (2012) wundert er sich, dass ein Bekannter aus seiner Schulzeit ihn nicht grüsst. Dessen Namen weiss er zwar nicht mehr so genau – Schmocker, vielleicht, oder Schmid – aber er ist sich sicher, dass der Typ vor etwa zehn Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. „De Ruedi Schmocker oder Schmid – äh, warum grüesst itz dä mi nid?“ Wundern ist also gewiss erlaubt, wenn jemand einen nicht grüsst. Mit dieser Ansicht sind Kuno und ich sicherlich nicht alleine.
Forschung
Es macht mich nicht traurig, wenn E-Biker mich nicht grüssen. Aber ich finde es ein recht interessantes Phänomen. Was könnten denn die Gründe sein?
- Nehmen sie mich nicht als Velofahrer wahr, weil ich zu langsam bin? Im Schnitt fahre ich 23 km/h auf dem Weg zur Arbeit, orakelte mal eine Tracking-App, die ich ausprobierte. Macht einen Geschwindigkeitsunterschied von maximal 23 km/h. Da sollte man mich schon als Verkehrsteilnehmer identifizieren können.
- Sind sie zu sehr auf das Steuern ihres Gefährts konzentriert? Wenn das so wäre, gäbe es einen dritten Grund, weshalb ich bisher nie die Anschaffung eines E-Bikes erwogen habe. Die anderen beiden Gründe erkläre ich einmal bei anderer Gelegenheit.
- Haben sie Mitleid mit mir, und schauen deshalb betreten weg? Wie man es eben so macht, wenn man jemandem in einer Not- oder äusserst peinlichen Lage begegnet, ihm aber nicht helfen kann oder will? (Ich glaube, das Neuwort dafür heisst Fremdschämen, bin mir da aber nicht ganz sicher.)
Fazit: Ein Appell
Liebe E-Bikerinnen, liebe E-Biker: Wir, die wir ohne Motor Velo fahren, tun das aus freien Stücken! Das schwören wir! Aus keiner Notlage heraus und nicht wegen einer psychischen Störung. Vielleicht, weil wir an der Energiewende mitbauen wollen. Vielleicht, weil gern körperlich arbeiten. Weil wir grad kein anderes Velo zur Verfügung haben. Weil wir, als der E-Bike-Hype losgegangen ist, erst grad zwei Jahre zuvor ein Velo gekauft hatten und nicht gleich wieder dreitausend Franken investieren wollten. Warum auch immer wir ohne Motor fahren: Wir brauchen deswegen kein Mitleid, weil wir das gerne und freiwillig machen. Eure Diskretion, wenn wir uns begegnen, mag gut gemeint sein, aber sie ist so überflüssig wie ein eingewachsener Zehennagel. Grüsst also frei von der Leber weg, wenn ihr morgen einer oder einem von uns begegnet. Wir mögen das und schätzen es enorm!
Vielleicht aber liege ich mit meinen Erklärungsversuchen total daneben, und die E-Biker betrachten sich einfach nicht als Velofahrende, was die „schnellen“ vor dem Gesetz ja auch nicht sind. (Für diese Haltung hätte ich ein gewisses Verständnis, das wollte ich hier aber gar nicht schreiben, kann es jetzt aber wegen eines Bugs im Texteditor nicht mehr löschen.) Dann war dieser Post umsonst. Auch egal.