Macht velofahren Spass, wenn man es muss?

Seit etwa Mitte November bin ich nie mehr Velo gefahren. Das hat nicht mit der Kälte zu tun, die ist ja auch nicht mehr, was sie mal war vor der Erfindung des Verbrennungsmotors. Das hat mehr mit dem Grössenwahnsinn des Strassendienstes zu tun. Diese Menschen haben in unseren Breitengraden den Ehrgeiz entwickelt, jeden Eiskristall, der sich auf eine öffentliche Fahrbahn wagen sollte, unter einem Pfund Streusalz zu vergraben. Und mein Velo mag das gar nicht.

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(Links oder rechts: welches Bild wurde in einer Schweizer Kleinstadt aufgenommen?)

Es begab sich aber zu der Zeit oder wenig später, nämlich ungefähr Mitte Dezember, dass meine Schulter zu Schmerzen begann. In der gleichen Woche setzte eine schmerzhafte Verspannung gleich südwestlich (in Fahrtrichtung gesehen) des rechten Schulterblattes ein, so dass ich im Büro die Trinkflasche nicht mehr vom Fenstersims heben konnte. Eine Folge davon waren Dehydratationserscheinungen. Am nächsten Frühmorgen verfehlte ich auf dem Weg in die Küche im Dunkeln eine Stufe und konnte nur mit einem für mein Alter gewagten Ausfallschritt einen Sturz verhindern. Seither: Schmerzen auf der linken Kniescheibe bei Belastung unter einem Biegewinkel von umgerechnet 130 °. Also Lift statt Treppe ins Büro. Am Abend dann hatte ich ein Möbel zu reparieren, und zwar in der Hocke; ich konnte ja nicht ahnen, dass das gleich eine halbe Stunde dauern würde. Seither verspüre ich dieselben Schmerzen in der Kniekehle wie vor wenigen Jahren, als ich den Meniskus reparieren lassen musste. Von weiteren Beschwerden will ich hier nicht berichten, das könnte als Jammern missverstanden werden, und das wäre mir nicht recht.

Doch, eines noch: seit Winterpause ist, schlafe ich schlechter als davor, und das gab mir Zeit zum Nachdenken. Die habe ich üblicherweise beim Radfahren, aber in viel besserer Qualität, weil mein Gehirn dann durch die Anstrengung besser durchblutet wird, wie ich mir sagen liess. Trotzdem kam mir in jener Nacht ein Gedanke, der mich seither nicht mehr los liess: Seit ich aufgehört hatte, mit dem Velo täglich zur Arbeit zu fahren, geht es mir körperlich deutlich schlechter als zuvor, mein Körper scheint förmlich zu zerfallen! „Was tun?“ fragte es in mir, und irgendwoher kam Antwort: „Arbeitshypothese: Körper schmerzt, wenn er nicht regelmässig gebraucht wird. Und umgekehrt. Prüfen mit Experiment!“ So ganz die alte Volksweisheit „Quäle deinen Körper, sonst quält er dich“, also. Das Experiment war schnell designt, und am folgenden Tag baute ich meine Trainingsrolle samt Rennrad auf und machte mich ans Training. Auf der Rolle, im Schwimmbad und dank der aussergewöhnlichen Schneefälle sogar auf der Loipe hinter dem Nachbardorf. Über meine Aktivitäten führte ich sogar Buch, und binnen zweier Wochen, rechtzeitig auf Weihnachten, war ich kuriert. Gott sei Dank. Man hat ja anderes zu tun vor Weihnachten als Experimente ungewissen Ausgangs anzustellen. Der zweite Teil des Experiments, seine Umkehrung sozusagen, war einfacher: Als ich meine körperlichen Aktivitäten wieder auf ein gesundes Mass zurückfuhr, taten mir wieder allerlei Teile weh.

Das wäre also geklärt, aber jetzt ist alles noch schlimmer, denn: Sollte es eines Tages so weit kommen, dass ich nur noch unter Dauertraining schmerzfrei wäre? Das klingt auf Anhieb verlockend. „Ich will ja gar nicht raus, liebe Frau, aber ich muss, sonst liege ich bald nur noch hier rum und schreie! Also tschau!“ Aber bald würde ich zurückkommen aus der Schwimmhalle und mich wundern, wer jetzt der pickelige Teenager am Esstisch ist. „Schwimmhalle?“ werden Sie sich jetzt fragen, „ja ist das denn hier nicht ein Veloblog?“ Schon richtig, aber vor lauter Michbewegen könnte ich ja keiner geregelten Arbeit mehr nachgehen (körperliche Arbeit kann ich nicht, ich hab’s probiert) und wäre bald gezwungen, meine Velos zu verhökern. Mein Leben wäre ruiniert.

So viel zu meinen übelsten Albträumen. So arg wird es hoffentlich nicht kommen. Aber ein Gedankenexperiment sei erlaubt: Wenn ich – eben, beispielsweise aus gesundheitlichen Gründen – gezwungen wäre, täglich mehrere Stunden Velo zu fahren, würde mir das noch Spass machen? Der Zwang könnte auch materieller Natur sein, wenn der einzige Job, den ich kriege, Velokurier wäre. Wäre dann Velofahren noch mein Hobby? Würde ich am Wochenende dann noch mit meinen Freunden ausfahren wollen oder lieber auf dem Sofa liegen die Fussballpartie Aarau-Wohlen (Lokalderby) im Pay-TV anschauen? Kann ein Hobby noch ein solches sein, wenn man Geld dafür kriegt?

Wir könnten jetzt Roger Federer dazu befragen, in der Annahme, dass er als Junge Tennis mal als Hobby ausgeübt hat und noch nicht als Beruf:

YoungRoger
(Bild: tennis-warehouse.com)

Nun, modeln war damals offenbar jedenfalls nicht sein Hobby. Trotzdem, er taugt nicht als Auskunftsperson, denn „Geld dafür kriegen“ ist kaum die rechte Bezeichnung für seine Art, Tennis auszuüben. Aber ich gönne ihm seinen Erfolg, dass wir uns recht verstehen.

Stattdessen könnten wir Tommy Godwin befragen, aber der lebt leider nicht mehr. Irgendetwas Krasses hat ihn 1939 genötigt, täglich im Schnitt 329 Kilometer durch den britischen Regen über britische Strassen zu preschen, bis er den Weltrekord für die längste in einem Jahr auf einem Fahrrad zurückgelegte Strecke erobert hatte. So sah er aus:

Godwin
(Bild: bbc.co.uk)

(Wie seine Frau aussah, wollte ich nicht googeln, denn irgendetwas musste ihn ja getrieben haben. Aber vielleicht hat er damals auch einfach keinen Job gefunden und sich selbst einen gemacht.) Der Rekord blieb übrigens bis 2015 bestehen, als er gleich von drei Seiten angegriffen wurde. (Es gewann Kurt Searvogel aus Amerika, und im Jahr darauf brach dessen Frau beinahe den Damen-Rekord in derselben  Disziplin. Die Turteltäubchen dürften sich also etwa zwei Jahre kaum begegnet sein. Doppelt übel für die Searvogels: Frau Amanda Coker hält seit letztem Jahr den absoluten Weltrekord, kam also auch weiter als Kurt. Geschichten gibt’s! Und von Steve Abraham haben wir noch nicht mal gesprochen. Aber googeln Sie selbst, das ist wirklich interessant.)

Dann gibt es da noch einen Freund, der mir mal sagte, er könne seine Rückenschmerzen nur in Schach halten, wenn er mindestens dreimal die Woche laufe. Nun, er hat aus der Not eine Tugend gemacht und sich für den Ironman Triathlon auf Hawaii qualifiziert. Ich vermute aber, er hat das mit dem Rücken erfunden, damit seine Frau ihn trainieren lässt. Die ticken so.

Es bleibt also vorderhand dahingestellt, was passieren wird, wenn mein Arzt mir tägliche, mehrstündige Velofahrten verschreibt. Ich hoffe jetzt einfach mal, dass er das nicht tun wird, sondern fahre rein präventiv so bald wie möglich wieder mit dem Rad zur Arbeit. Beispielsweise morgen.

Zum Schluss: Die Herren im nachfolgenden Video scheinen eine ganz eigenartige Krankheit zu haben. Sie müssen nicht velofahren, sondern velotragen. Vielleicht sind sie aber bloss Radquer-Fahrer beim Indoor-Training. In einer Grossstadt einen Hang aus Morast zu finden, stelle ich mir jedenfalls nicht einfach vor. Sie wurden dabei gefilmt, wie sie in einem Fahrradladen übten.

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