Als Velofahrer kennt man das Gefühl bestens: Scheinbar endlos liegt etwas – zum Beispiel eine Steigung oder eine flache, gerade Strasse – vor einem und weigert sich, endlich aufzuhören. Irgendwann ist es dann doch vorbei, und irgendwie will sich die lange aufgebaute Vorfreude nicht so recht in – wie nennt die sich denn eigentlich? – tatsächliche Freude verwandeln. Man ist einfach froh, dass es endlich vorbei ist.
2017 war so eine Dauerwurst. Damit meine ich nicht mal die Tatsache, dass der Markt an interessanten Fahrradmagazinen mehr oder weniger komplett verschwunden ist. Nein, 2017 war das Jubiläumsjahr „200 Jahre Fahrrad“, womit aber bloss die Erfindung des Laufrads gemeint war. Zwar brauchte es diese Erfindung als Grundlage für die Entwicklung des Fahrrades. Das gilt aber auch für die Entdeckung des Feuers (schweissen Sie mal einen Rahmen ohne Feuer!) oder des aufrechten Gangs (steigen Sie mal aus dem Liegen auf ein Fahrrad!). Das Jubiläum war also etwas an den Haaren herbeigezogen, aber das macht nichts, den das ist mit den meisten Jubiläen so. (Kleiner Einschub für Nicht-Schweizer: unser Nationalfeiertag, der 1. August, wurde gewählt, weil auf einer wahrscheinlich unbedeutenden und zufälligerweise erhaltenen schriftlichen Vereinbarung zur Friedenssicherung unter drei Clans aus dem alpinen Urwald das Datum „anfangs August“ stand.)
Nun aber zur Sache: Das Jubiläumsjahr „200 Jahre Velo“ war äusserst bemühend oder gar hart an der Kotzgrenze, finde ich. In allen Medien wurde unsere liebevolle und innige Verbindung zur grossartigsten Erfindung der Menschheitsgeschichte beschworen, und damit war in der Tat das Velo und nicht der Fernseher oder das Smartphone gemeint, und auch nicht das Auto. Von einer Liebesbeziehung war die Rede, und der Hund als bester Freund des Menschen schien zwischendurch abgedankt zu haben. Es konnte einem übel werden ob so viel Heuchelei. Denn das geliebte Fahrrad wird nach wie vor vernachlässigt, verachtet und weggesperrt. Darüber kann nicht hinwegtäuschen, dass es im Moment ein total hippes Lifestyle-Accessoire ist wie Kopfhörer oder Tablet. Benutzen tut es kaum einer häufiger als nötig, und die Rahmenbedingungen, die von den zuständigen Behörden (und das sind irgendwie alle öffentlichen Körperschaften) geschaffen werden, sind eher zur Vorbereitung einer Scheidung gedacht als zur Pflege einer harmonischen Ehe. Liebesbeziehung sieht anders aus, und die kann auch nicht herbeigeredet und -geschrieben werden. Nicht, solange der eine Partner ganz selbstverständlich und unverhohlen häufiger mit einem Dritten rummacht als mit seiner angeblich Angebeteten und alle Verwandten und Bekannten dazu heftig applaudieren.
Richtig, gemeint ist natürlich das Auto. Der Freiherr von Drais hatte ein einfaches, für viele erschwingliches Fortbewegungsmittel im Sinn, als er 1817 sein Bein über die Draisine schwang, um von Mannheim nach Schwetzingen zu rollen. An ein Sportgerät dachte er bestimmt nicht. Sport gab es damals noch gar nicht, von den antiken Griechen abgesehen, die aber längst im Ruhestand waren zu der Zeit. 2017 aber ist das Fahrrad für die allermeisten von uns nichts viel mehr als ein Sportgerät unter vielen. Neben Hantel, Inline-Skates und Golfschläger. Dabei hätte es das Potenzial, die Welt zu retten, und das ist keine hohle Phrase. Es wäre ein Mittel gegen Stau, Lärm, Herzinfarkt, Übergewicht, Platzmangel in Städten, Armut in Schwellen- und Entwicklungsländern, sich entleerende Innenstädte oder schlechte Laune und Depression überhaupt. Zu all diesen Punkten gibt es Studien, die das belegen.
Aber alles, was das Velo heutzutage befeuert, sind die Leserbriefspalten in den Zeitungen, wenn irgendwo ein Radweg mit öffentlichen Geldern gebaut werden soll („Wieso sollen meine Steuergelder für sowas eingesetzt werden, wo ich doch gar kein Wiehiessdasnochmal, Fahrrad benutze!“). Oder die Fahrrad- und Bekleidungsindustrie, die uns Spezial-Ausführungen für Spezialzwecke vom Allmountain-Mountainbike bis zur Rennrad-Wintersocke für nasse Bedingungen liefert, vorzugsweise in Hightech-Materialien. Aber echt, Liebesbeziehung zwischen Mensch und Fahrrad?
Die Festtage machten wenig Hoffnung auf eine baldige Änderung dieses Settings. Man nahm sich Zeit für Gespräche mit Leuten, die man eher selten spricht oder mehr mit organisatorischer Absicht. Nicht erstaunlich war, dass mehrere meiner Gespräche irgendwann auf das Thema Verkehr kamen. Die 200 Jahre wurden erwähnt, der tolle Veloweg zum Stadtrand und dass man wieder mehr Rad gefahren sei als auch schon. Wenn man bloss nicht schwitzen würde beim Radeln, dann wäre das ein probates Mittel, um zur Arbeit zu fahren, aber wer duscht denn auch noch gern im Geschäft? Tiefpunkt war die Kollegin, die ihre Wohnlage direkt am Rand der Innenstadt in einem trotzdem ruhigen Viertel lobte, um sofort nachzulegen, ohne Auto könnte sie dort auf keinen Fall leben, denn wie würde sie sonst ihre Einkäufe nach Hause bringen? Es war eben so pathetisch wie repräsentativ, dieses Gespräch.
So, das war es nun mit Gejammer für dieses Jahr! Ab sofort nur noch Erfolgsmeldungen und Schwärmereien, denn es geht auch anders. Es gibt so viel Schönes und Gutes und Tolles über das Velo und Velofahren und Velofahrende zu berichten, und da draussen sind sicher über ein Dutzend Menschen, die ebenso froh um das Fahrrad als Fortbewegungsmittel, Freiheitsmaschine und Gedankengenerator sind wie velopflock. Und damit das vergangenen Jahr nicht nur als eine einzige riesige Sülz-Orgie in Erinnerung bleibt, seien hier einige wirklich und ehrlich positive Aspekte und Erlebnisse aufgeführt (Liste ohne Anspruch auf Vollständigkeit):
- In meiner näheren Umgebung wurde eine Fussgänger- und Fahrradbrücke eingeweiht!
- Irgendwo im Schweizerischen Mittelland hat ein Händler angeblich ein Velo ohne elektrische Tretunterstützung verkauft! Leider habe ich keine Beweise für diese spektakuläre Behauptung.
- Boneshaker liess es in seiner letzten Nummer nochmals richtig krachen mit einem Artikel, der verschiedenste Förderer des Fahrrades verdankte und dazu äusserst interessante, intelligente und visionäre Texte als Beleg liefert. Unter anderem Ivan Illich, der 1974 in Energy and Equity vorrechnete, wie effizient das Velo ist; Dervla Murphy, die schon 1963 einfach bloss die Welt anschauen wollte und dies aus praktischen Gründen mit dem Fahrrad tat – sie erkannte bereits, dass sie eine Welt sah, die schon ihre Kinder nicht mehr erleben würden; Carlton Reid, der es wie wenige andere versteht, in seinen Büchern und Vorträgen die grossen Zusammenhänge und Missverständnisse in der Welt der Mobilität einfach und verständlich aufzuzeigen. Wer sich beeilt, kann sich diese letzte Ausgabe, #20, von Boneshaker noch sichern und selber alles nachlesen.
- In mehreren Polizeimeldungen zu immer gleich verlaufenden Kollisionen zwischen Autos und Velos in Verkehrskreiseln (Velo im Kreisel, Autofahrer fährt in den Kreisel und übersieht Velofahrer) wurde nicht mehr das Velo als Akteur genannt („eine Radfahrerin wurde im Kreisel von einem Auto erfasst“), sondern eben das Auto: „Ein Auto erfasste die Radfahrerin seitlich-frontal.“ Keine Haarspalterei, denn die Ausdrucksweise in so einem Satz sagt viel über die – bewusste oder unbewusste – Haltung des Schreibenden aus.
- Einige grossartige Strassen wurden 2017 befahren! Bilder dazu auf Instagram bei velopflock (Menü-Button ganz oben rechts auf unserer Website), darunter der San Bernardino-Pass und das Emmental.
- ______________ (Jetzt könnt ihr euch diesen Post ausdrucken und hier eure eigenen Velo-Highlights aufschreiben, wenn ihr mögt, oder dazu die Kommentarfunktion benutzen. Wer länger als fünf Sekunden überlegen muss, um eines zu finden, ist 2017 wohl gescheitert in dieser Hinsicht…)
Und jetzt muss ich leider weiter, denn es gibt viel zu planen und vorzubereiten für das neue Jahr. Radtouren, die nicht mindestens provisorisch und samt Begleitung irgendwo im Kalender eingetragen werden, finden erfahrungsgemäss nicht statt, was auch nicht weiter schlimm ist, wenn man sonst für seinen eigenen Geschmack genug im Sattel sitzt übers ganze Jahr.
Für 2018 also einmal mehr: Chapeau, und Just Ride!