Wenn wir Radfahrer etwas haben, dann ist es Charakterstärke. Das wird jeder bestätigen, der schon einmal Rad gefahren ist. Radfahren verbessert jeden Charakter, denn Radfahren ist eine Metapher für das grosse ganze Leben und alle seine Aspekte: Sieg und Niederlage, Höhen und Tiefen, Anstrengung, Mut, Verzweiflung, Erfolg, Schokolade. Mehr noch: für jedes bedeutende Problem im Leben findet man eine Antwort im Sattel. Man muss nur lang genug suchen. Radfahren lehrt einen auch ganz grundlegende Tugenden, an deren Vermittlung an die Jugend Heerscharen von Pädagogen täglich kläglich scheitern. Zum Beispiel: Wer sich genug ins Zeug legt und Widerstände überwindet, wird am Ende belohnt. Das kann auf jeder Passfahrt erfahren werden. Oder: Trage Sorge zu deinen Sachen, dann hast du länger Freude daran. Wer sich einmal die Zeit nimmt und unmittelbar vor und nach einer gründlichen Kettenreinigung eine Stunde Rad fährt, wird verstehen, was gemeint ist. Oder, etwas tiefere Flughöhe: Ist die Luft mal draussen, wird es hart.
Natürlich kann man Charakter auf verschiedenste Arten erwerben. Eine schöne und anschauliche Auswahl lieferte der Comic „Calvin & Hobbes“ von Bill Watterson:
Leider wurde die Reihe ja vor längerer Zeit eingestellt. Schade, denn wären diese Geschichten zur Zwangslektüre für all die Menschen erklärt worden, die sich fortpflanzen wollen, dann sähe die Welt besser aus.
Für Radfahrer sind die Zeiten dermassen hart im Moment, dass selbst routinierte Velofahrer richtig gefordert sind. Mentale Stärke ist gefragt. Seit anfangs April sind wir mit einem Klimarückschlag konfrontiert, den man in diesem Ausmass letztmals in den 1920er Jahren beobachtet hat. Davor auch in den 1810er Jahren, als der Vulkan Tambora irgendwo in Indonesien ausbrach. Der Rest ist Allgemeinwissen, denn man liest ja Zeitung. Für die Pferde ging die Sache schlecht aus, hingegen wurde das Velo erfunden. Nun aber könnte das Pendel in die andere Richtung ausschlagen, und wir Radfahrer könnten vom Antlitz der Erde verschwinden, wenn es dumm läuft. Gerade mal sechzig Stunden lang übers letzte Wochenende war das Wetter gut genug, dass man Radfahren gehen konnte ohne schwere gesundheitliche Schäden zu riskieren. Zur Arbeit fahren ist ja das eine. Da macht man einfach weiter wie im Winter. Wer aber Radfahren als Sport betreibt (eine seltsame Spielart des Velogebrauchs, das muss ich einräumen, aber trotzdem), der muss sich momentan ziemlich viel einfallen lassen an der Motivationsfront. Wer das nicht schafft, wird sich lieber im Internet mit Velofahren beschäftigen oder einfach seine Zehennägel schneiden.
Motivation hat ganz viel mit inneren Bildern zu tun, hört man immer wieder in Managementseminaren oder in Selbsthilfegruppen für Pornosüchtige. Und so tut auch ein Radfahrer gut daran, sich im Kopf ein Bild, eine Metapher oder einfach ein Gedankenmodell zurecht zu legen, das ihm plausibel macht, wieso er jetzt in den Eisregen hinausfahren soll, statt sich zu Hause auf die Couch zu legen. Solche Autosuggestion ist mir seit dem Beginn der tückischen Kaltphase nur selten gelungen. Im Monat April ist der Sattel meines Rennvelos ziemlich durchgehend kalt geblieben. Zuerst hab ich mit folgender Analogie versucht, mich selbst zu übertölpeln: Das Sportlerleben (Sportler! Ich! Was für eine plumpe List!) ist ein Sack, und mit jeder Trainingsfahrt tu ich eine Goldmünze rein. Und wenn der Sack schön voll ist… ja, was ist dann? Dieses Bild war mir dann doch zu materialistisch.
Der nächste Versuch war: Erst wenn ich tausend Kilometer auf dem Rennvelo runtergespult habe, wechsle ich aufs Mountainbike, mein Spassmobil, weil erst dann werde ich anständige Touren in die Berge unternehmen können. Damit bin ich aber schon mal gescheitert. Ich hatte mich für ein Jedermann-Rennen auf dem Mountainbike angemeldet. Und dann musste ich in der Woche vor dem Rennen viermal aufs Rennvelo steigen, um die Tausend noch vor dem Start zu schaffen und mit dem Mountainbike zum Rennen antreten zu dürfen. Irgendwie hatte ich schlechte Beine in dem Rennen.
Ziemlich schnell kam ich dann auf religiöse Muster: Irgendeine Instanz, irdisch oder überirdisch (Strava? Gott?) schaut mir wohlwollend bei der Kasteiung zu und wird mich in nicht so ferner Zukunft dafür belohnen (ich weiss, genau genommen handelt es sich nicht um eine lupenreine Kasteiung, wenn am Ende eine Belohnung rausschaut, aber ich wollte das Wort schon immer mal verwenden. Kasteiung, Kasteiung, Kasteiung). Die Belohnung könnte zum Beispiel teuflisch gute Fitness sein! Dieser Trick funktionierte nur einmal. Beim zweiten Versuch wollte mein innerer Schweinehund einen unterschriebenen Vertrag sehen.
Bloss einer Metapher sollte man sich nicht bedienen, sonst sitzt man nur noch heulend vor dem Fernseher, wenn die Wettervorhersage läuft. Und das ist das Schwungrad-Modell. Es geht so: Der Körper reagiert auf Trainingsreize wie ein Spielzeug-Auto mit Schwungrad auf Vorwärtsschieben: es nimmt Fahrt auf. Je schneller aufeinander ich die Anschiebebewegung wiederhole, desto schneller drehen sich die Räder. Höre ich mal kurz auf, um in der Nase zu bohren, ist schnell wieder Schluss mit Schwung. Umgekehrt braucht es immer häufigere und heftigere Aufziehmanöver, wenn das Tempo einmal hoch ist. Und genau so verhält es sich mit unserer körperlichen Leistungsfähigkeit (Schwungrad) und gezielten Trainingseinheiten (Aufziehbewegung): Trainiere ich mal ein Weilchen nicht, ist der ganze Effekt der Trainingseinheiten davor auch zum Teufel.
Sollten Sie das jetzt nicht verstanden haben, macht mich das zwar traurig, weiter schlimm ist es aber nicht. Sie können das jederzeit nachlesen, indem Sie „Superkompensation“ in Ihre Suchmaschine hauen. Dann kommen so schöne Bilder wie dieses hier auf den Schirm (x-Achse ist Zeit, y-Achse in etwa Leistungsvermögen):

Wenn Sie nicht fleissig trainieren, sieht das aber eher so aus:
Ich hab’s ja gesagt: Finger weg von der Schwungrad-Metapher. Einziger Ausweg: Setzen Sie einfach den Nullpunkt der Zeitachse auf Mitte Juli. Da wird es dann schon wärmer sein, und das Trainieren fällt ein klein bisschen leichter. Bis dahin schneiden Sie sich sorgfältig die Zehennägel.
Ein Gedanke zu “Mentale Stärke ist gefragt.”