Die Jahreszeit (für Leser in der fernen Zukunft: die Vorweihnachtszeit ist gemeint) bringt es mit sich, dass öfter üppig gegessen wird, als aus physiologischen Gründen unbedingt erforderlich wäre. So habe ich in den letzten zwei Wochen häufiger an Festessen teilgenommen als ich im ganzen Jahr mein Velo gereinigt habe. Ich gestehe und bereue es. Das wenige putzen, meine ich, nicht etwa das Essen. Umso besser, dass derzeit immer noch anständiges Velowetter herrscht und ich zur Arbeit oder von Abendveranstaltungen nach Hause radeln kann. Das ist aber nicht jedermanns Sache, Velo fahren im Winter. Eben habe ich auf dem Weg zum Bahnhof folgenden Fetzen aus dem Gespräch zwischen zwei jungen Leuten gehört. Er: „Du kannst ja mit dem Velo hinfahren!“ Sie: „Spinnst du, Velo fahren im Winter?“ Die Frage darf durchaus gestellt werden, je nach persönlicher Definition von Winter. Aber wenn Winter so wie heute milde acht Grad, Windstille und strahlender Sonnenschein ist, dann: ja bitte, Velo fahren im Winter.
Schon dreimal bin ich diesen „Winter“ spät in der Nacht nach einer rituellen, christlich motivierten Fressorgie mit dem Velo nach Hause gefahren, und zwar auf der Route meines täglichen, zwölf Kilometer langen Arbeitsweg. Was war ich jeweils dankbar für die Gelegenheit, meiner Darmtätigkeit etwas auf die Sprünge helfen zu können. Froh verschwitzte ich etwas Alkohol (keine Sorge, mein Weg ist fast verkehrsfrei). Die Zeit, die ich dabei für mich allein hatte, nutzte ich, um über Ereignisse, Gespräche und Outfits des Abends nachzudenken.
Schon am ersten Abend kam mir – vielleicht unter dem gütigen Einfluss von Alkohol – die zündende (Wortspiel!) Idee, mal meinen Scheinwerfer auszumachen, um zu sehen, wie viel Licht der eigentlich ständig macht. Die Versuchsanordnung war beinahe optimal, weil neben Verkehr auch jegliche Beleuchtung fehlte, abgesehen von der schlanken Sichel des Mondes. Es wurde also ziemlich dunkel. Im ersten Moment fühlte es sich an wie ein Blindflug, wie eine Fahrt auf Glatteis. Ich schlingerte. Nach einigen Sekunden hatten sich meine Augen aber ein wenig an die Dunkelheit gewöhnt, und ich war wieder Herr meines Gleichgewichtes. Und dann fing der Genuss an: Die Sterne kamen noch deutlicher heraus als zuvor. Auf der Wiese hinter dem Strassenrand zogen schwarze Baumgerippe langsam vorbei wie übergrosse Spinnen, nur freundlicher. Die verschneiten Berge leuchteten im Schein des Halbmonds. Sogar die Geräusche in der Umgebung glaubte ich besser wahrzunehmen, das Rascheln im Gebüsch, das Sirren der Reifen und einmal auch einen Kauz. Fast zwei Kilometer weit glitt ich dahin, wie ein Raumgleiter im All, eingepackt in Dunkelheit und Stille. Vermutlich haben Astronauten auch so ein Strahlen im Gesicht, aber hoffentlich weniger Restalkohol im Blut.
Ich war sehr gespannt, was ich auf der Fahrbahn anträfe, wenn ich den Scheinwerfer wieder andrehen würde. Ich war ohne Licht ja sehr unauffällig unterwegs gewesen, hatte mich also sozusagen angeschlichen. Darum erwartete ich im Lichtkegel Hirsch, Reh, Fuchs, Igel, Hase oder auch einen Wolf, weil der auch schon in der Gegend gesichtet worden war. Leider waren nur ein paar Blätter zu sehen. Vielleicht sollte ich mal wieder meine Kette ölen. Gelohnt hat sich der Versuch aber, und seither mache ich immer das Licht aus auf jenem Abschnitt der Strasse nach Hause. Irgendwann wird sich auch das Wild übertölpeln lassen.