Aus für eine der innigsten Beziehungen in der Welt des Radfahrens ausserhalb des Pelotons: Paul Tamburin wird von seiner Sattelschraube nach sieben Jahren eiskalt sitzengelassen. Der nicht einmal in Insiderkreisen bekannte Veloblogger (velopflock.ch) konnte darum mehrere Minuten nicht mehr sitzen.
Soviel zur Berichterstattung in der Regenbogenpresse. Hier meine Sicht der Dinge. Das Drama nimmt seinen Lauf zu Beginn meines Arbeitswegs. Ich bin spät dran und brettere den Hang ins Dorf hinunter. Zwanzig Meter in die Ebene hinein, und nicht etwa in det Depression am Ende der Abfahrt, erklingt ein lautes und schauriges metallisches Knacken, welches man aus dem zehnten Bond-Abenteuer „Der Spion, der mich liebte“ kennt (Richard Kiel als „Beisser“ kaute alles, was glänzte), gefolgt von einem Poltern und dem unverwechselbaren Schaben von schwarzem Leder auf schwarzem Belag. Mein Unterbewusstsein ist sofort im Bild über Herkunft und Ursache der Geräusche, weshalb sich meine Hände geistesgegenwärtig am Lenker festkrallen und meine Beine sich strecken. So kann ich einen Sturz und andere Vorgänge, die ich hier näher zu beschreiben nicht wage, verhindern. Ich halte an und checke den Status.
Der materielle Schaden beschränkt sich auf Kratzer an meinem Brooks Swift-Ledersattel (schlimm genug, denn er ist ein Geschenk von mbrennwa). Die emotionalen Folgen sind hingegen verwüstend: Ich kann mich nicht mehr auf mein Alltagsvelo, mein Arbeitspferd, meine Nebenfrau verlassen, auf die ich tagtäglich angewiesen bin! durchzuckt es mich, als ich neben dem sattellos skurril aussehenden Gefährt stehe. Vorerst aber muss ich zu einer Sitzung (pun not intended) ins Büro. Der nächste Bus fährt selbstredend just in diesem Augenblick, und der übernächste wird zu spät sein. Also im Laufschritt mit dem verstümmelten Velo an der Hand den Hügel hinauf. In der Garage vermute ich eine Ersatzschraube. Ich finde auch eine, aber die ist mit 23 Jahren noch deutlich betagter als das Versagerteil, das sie eigentlich ersetzen soll, und von diesen 23 Jahren war sie sieben Jahre im Wintereinsatz. Wieso ich das Alter einer beliebigen Schraube an meinem Velo kenne? Gute Frage! Die Antwort würde aber den Rahmen eines auf dem Smartphone getippten Blogeintrags sprengen. Sie hat mit einem Veloweitwurf im Affekt und einer Reise nach Neuseeland zu tun.
Ich also fette die Uraltschraube sogar noch (man ist ja kein Anfänger!), drehe sie rein und mache mich zum zweiten Mal an diesem Tag auf den Arbeitsweg.
Abergläubisch wie ich bin, setze ich mich erst hundert Meter nach der Stelle des Zwischenfalls auf den neu befestigten Sattel, und das mit ordentlich Muffensausen (pun intended). Auf der ganzen Fahrt beisse ich vor jeder sichtbaren Unebeneit auf der Fahrbahn in Erwartung einer neuerlichen Trennung von meinem Sattel auf die Zähne. Gewisse andere Muskeln weisen ausserdem einen konstant erhöhten Tonus auf.
Ich komme unversehrt im Büro an, kriege aber nichts mit von der Sitzung, weil ich ständig an den Brutusmord vom frühen Morgen denke. Erschwerend kommt hinzu, dass es der Tag vor der Abreise in die Ferien ist – mit dem Fahrrad! Auf dem Heimweg schaue ich bei meinem Leibmechaniker vorbei, um dauerhaften zuverlässigen Ersatz für die Sattelschraube zu besorgen, aber der feine Kamerad ist schon eine Woche vor mir in die Ferien abgedüst. Der Notfallschrauber ein paar Strassen weiter – ist es noch eine Überraschung? – hat gerade keine Schraube an Lager und verweist mich an den Baumarkt, denn so lange der Durchmesser stimmt, tut es jede beliebige Metallschraube. Dieser Vorschlag bringt mich auf den Gedanken, dass im Keller meines Arbeitgebers eigentlich mehrere Schachteln genau solcher Schrauben herumliegen, wenn auch nicht für den Zweck der Sattelmontage gedacht. Die Zeit wird aber langsam knapp, denn zu Hause wollen noch ein Ferienkind verabschiedet, vier Velotaschen umsichtig gepackr und ein Fahrrad reisetauglich gemacht werden. Also spurte ich nach Hause, vergesse die altersschwache Schraube an meinem hinteren Ende und erledige alles.
Am nächsten Tag dann die Abfahrt in die Ferien, von der Haustüre weg, das Wetter ist prächtig und warm, die Kinder ausdauernd und gut gelaunt, und schon nach dem Mittagessen flattert auf jedem Gepäckträger fröhlich ein Badegewand zum Trocknen. Erst am Abend vor dem Gasthaus kommt mir die Schraube wieder in den Sinn. Ich schüttle weise lächelnd den Kopf über meine kleinlichen Zweifel an der Loyalität meiner stählernen Schönheit und freue mich auf die nächste Etappe. Was gibt es schliesslich Schöneres als eine richtig lange Velotour mit der Familie im Sommer? Und was kann man zur Not nicht alles mit einem Kabelbinder flicken?
Tjaa, üble Sache, ich kann da ausgesprochen mitfühlen! Als mir das ja letztes Jahr passiert ist, hatte ich die rechte Hand am Lenker, die Linke aber, die klemmte ein grosses Paket gegen die Rippen, auf dem Weg zur Post. Die rechte versuchte ebenfalls, sich am Lenker festzukrallen. Aufgrund der herrschenden Assymmetrie im Oberkörperbereich nahm das ganze aber einen gänzlich anderen Verlauf.
Immerhin bin ich stolz drauf, meine bald bald 30-Jährige Fallschule aus Judo und Jiu Jitsu geistesgegenwärtig und intuitiv angewendet zu haben und mich dann zwar mit fehlender Haut an den Handballen und am linken Knie, jedoch ohne Brüche (mal abgesehen von der Schraube) vom Asphalt wieder ablösen konnte.
Als ich meine Verblüffung, dass sowas genau mir passieren sollte, dem Velo-Mech meines Vertrauens geschildert hatte, meinte der nur trocken: „Ja, ja, das passiert gelegentlich…“ WZBW.
Gruss aus Basel aux Grisons
Allerdings, das habe ich nicht erwähnt: dass ich als Konfessionsloser das dringende Bedürfnis verspürt habe, eine Kerze anzuzünden. Es war mir klar, dass die Geschichte anders hätte ausgehen können. Aber Urs: wieso benutzt du keinen Gepäckkorb, um Himmels Härdöpfels Willen?
Das wurde ja langsam Zeit. Gib doch endlich zu, dass der Brooks einfach furchtbar unbequem ist. Sogar dein Velo rebelliert!
Abergläubischer! Animist! Ein Velo ist ein seelenlos Ding, ein Gegenstand, der erst unter einem Menschen seine Wunder vollbringen kann. Der Brooks ist zwar gerade enorm im Trend, aber trotzdem ist er ein grossartiger Sattel. Das war schon vor dreissig Jahren so, als ich meinen ersten kaufte, weil zwei junge Briten mit Brooks-Sätteln den Kilimanjaro bezwangen, und das ist immer noch so. Lederkernsättel kondensieren eine der tiefen Kehren des Velofahrens: wer sich anstrengt, der erreicht etwas. Gilt für das Hochfahren einer Passstrasse ebenso wie für das Einfahren eines Sattels. Und wer dann seinen Sachen etwas Sorge trägt, wird lange Freude daran haben. Klingt altmodisch, aber das ist mir egal, ich gehe velofahren. Capisci?
Nun,
eine sog. 1Bolt-Stütze hat eben auch einen sog. „Single Point of Failure“, leider. Und nicht wenige finden Stützen mit 2 Schrauben am Kopf zu fummelig. Meine Systhese ist diese: Ein gut konstruierter Stützenkopf kann einem vor vielem bewahren, auch vor abgebrochenen Schrauben, nur nicht vor eigener Dummheit….;-)