Der chinesische Künstler Ai Weiwei hat eine ziemlich grosse Installation geschaffen mit dem Namen „Forever Bicycles“. So sieht die Installation aus (Bild: Paul Crock, AFP, über tagesanzeiger.ch):
(Hätte die Frau nicht vielleicht eine halbe Minute warten können?)
Das sind natürlich keine echten Velos, sondern identische Teile aus Edelstahl, 1’179 Stück an der Zahl, sorgfältig aufgereiht. Der Werktitel bezieht sich offenbar auf einen chinesichen Fahrradhersteller. Weiwei hat schon eine ganze Reihe von Installationen mit dieem Titel gebaut. Wie jedermann hat auch er klein angefangen, mit 42 in einem Kreis angeordneten Fahrrädern.
Schaut man sich das Werk an, kann einem leicht schwindlig werden. Die Räder scheinen auf einen zu zu sausen. So viele auf’s Mal! Deshalb ist „Forever Bicycles“ der philophischen Strömung des Utopismus zuzurechnen. Utopismus: Lebenshaltung, die in Unzufriedenheit mit der Gegenwart auf eine ideal ausgemalte Zukunft der Gesellschaft wartet bzw. sie herbeizuführen sucht. (Fernkurs-Würzburg.de) Unzufriedenheit mit der Gegenwart, und wie! Da können wir lange warten, bis uns auf einer öffentlichen Strasse derart viele Räder entgegen kommen. Das kann ein Chinese wie Ai Weiwei natürlich nicht wissen. Wobei, China ist ja auch nicht mehr, was es mal war (was natürlich auch Vorteile hat, wenn man zum Beispiel ein chinesischer Kleinbauer ist):
Was könnte uns die Installation denn sonst noch so alles sagen wollen? Vielleicht ist das ganze ironisch gemeint und will kunstbeflissenen Westlern unter die goldene Nase reiben, dass China auch nicht mehr ist, was es mal war (was durchaus seine Vorteile hat, zum Beispiel, wenn man ein westlicher Investor ist, womit sich die Ironie aber umkehren würde, irgendwie).
Mein Interpretationsansatz ist ein anderer: die Installation verkörpert die für einen Radfahrer wichtigste mathematische Formel
x=n+1 (1)
wobei
x Anzahl Fahrräder, die man besitzen sollte
n Anzahl Fahrräder, die man tatsächlich besitzt,
und führt einem die traurige Absurdität der Gleichung (1) auch gleich aufs Heftigste vor Augen: wie viel Platz nur schon 1’179 Velos beanspruchen! Und 1’179 ist ja n, also sollte noch eins dazu kommen, und noch eins, und noch eins. So einen Veloabstellraum hat keiner für sich allein. Also drängt sich eine weitere Interpretation auf: die Installation ist ein Aufruf zur Bescheidenheit, zur Selbstbeschränkung, zum Verzicht. Wie ironisch, so kurz vor Weihnachten. Als kunstbeflissener Westler weiss ich das Werk aber präzise zu deuten: Aufs Radfahren soll ich auch an Weihnachten nicht verzichten. Das wäre Gutmenschentum, und das ist ja wohl widerlich.
An Weihnachten Velo fahren bis mir der Tannenbaum auf den Kopf fällt…ich finde das romantisch, aber vielleicht bin ich auch kein guter Mensch (damit kann ich leben).