(Finden Sie auch, dass man den Namen Merckx nicht so leicht auf Anhieb buchstabieren kann, aber sofort feststellt, ob man ihn richtig geschrieben hat, wenn man ihn geschrieben vor sich sieht?)
Ich hätte es kommen sehen müssen. Das schreibt sich hinterher immer so leicht, aber damals hätte ich wirklich erkennen müssen, wie heftig Mr. Murphy mit dem Zaunpfahl gewinkt hat. Damals, auf Radreise in Marokko, Woche drei. Wir hatten noch eine Woche bis zu unserem Rückflug und waren eben vom Rand der Sahara über den Atlas zurück Richtung Marrakesch unterwegs. Nach Sand und Bruthitze hatten wir nun Lust auf Meer und Wind und wollten nach einem Tipp aus unserem Reiseführer an die Atlantikküste. Die Küstenstrasse zwischen Essaouira und Safi sollte lohnend sein. Schon auf der Anfahrt auf Marrakesch beschlossen wir, einfach den nächsten Bus nach Essaouira oder nach Safi zu nehmen, halt den, der zuerst losfahren würde. Ist doch auch schön, seinen Reiseplan ab und zu dem Zufall in die Hand zu geben.
Damals konnte ich mir das noch leisten, hatte weder Familie noch feste Anstellung. Heute habe ich eher Schwierigkeiten, das zu tun, lasse es aber sowieso tunlichst sein. Was war geschehen? Der erste Bus war der nach Essaouira, das war geschehen. Die Konfitürenseite des vom Tisch gefallenen Konfitürenbrotes. Essaouira, runde hundert Kilometer südlich von Safi gelegen, trägt den Beinamen „City of Winds“ und ist darum ein Surfermekka. Diese Tatsache allein ist ja noch nicht verdächtig, und ich realisierte erst etwa zwei Stunden nach unserer Ankunft bei den Surfern, dass der Wind nicht nur programmgemäss unablässig röhrte, sondern das auch noch aus nördlicher Richtung. Luft kam also ganz eilig und in grosser Menge daher, wo wir gemütlich hinfahren wollten. Welch unglückselige Kombination, dachte ich bei mir und schritt zum Sanitärblock des Zeltplatzes, um meine Unterwäsche zu reinigen, aber davon an dieser Stelle nicht mehr.
Immer noch etwas schwach verliessen wir am übernächsten Tag die City of Winds (deren Beinamen für uns inzwischen doppeldeutig war) und schwenkten auf die Küstenstrasse in Richtung Norden ein. Die Landschaft war hübsch, schöne Sandstrände, hellweisse Schaumkronen, berückend duftende Zwiebelfelder und wenige Hügel. Diese hatten es aber in sich, denn wir mussten bergab nicht viel weniger treten als bergauf, weil der Wind voll surfmässig blies, rüttelte, zerrte und brüllte. Entnervt brüllte ich ab dem Mittag des ersten Tages gelegentlich zurück, was meine Reisebegleitung zu Solofluchten veranlasste, die einem Eddy Merckx wohl angestanden wären. Ich brüllte umso lauter. Davon machen wollte sich einmal auch das Zelt, als wir es aufbauen wollten. Wie ein geblähtes Segel zog es über eines der besagten Zwiebelfelder. Wir rannten, so gut wir noch konnten, hintendrein.
Wir erreichten Safi am Nachmittag des dritten Tages, und nicht etwa, weil wir es besonders gemütlich genommen hätten, nein. Wir waren vier bis sechs Stunden gefahren wie jeden Tag auf jener Reise, was nicht gerade mordsmässig viel ist, aber üblicherweise doch für Tagesleistungen von sechzig bis hundert Kilometern reicht. Bei so einem infernalischen Wind ist das aber nicht möglich. Zwar legte er sich immer nachts, aber da wollte ich dann doch lieber schlafen. Sowas nagt an jedem Velofahrer, auch wenn er keinen Velocomputer mitführt und seine Reisen unter dem Motto „der Weg ist das Ziel“ ableistet. Deshalb gönnten wir uns in Safi zwei Nächte in einem der besseren Hotels am Platz, prächtig und mit wunderbaren Ornamenten befrachtet, wie es nur Hotels im arabischen Raum sind. Das Hotel thronte auf einem Hügel über der Stadt, besass einen eigenen Pool, und der war von Palmen gesäumt. Als ich in die Lobby taumelte, deutete der Concierge strahlend auf meine Velotaschen und meinte: „Aah, vous voyagez en bicyclette! D’où est-ce que vous venez?“ Ich zitiere weiter auf Deutsch, um seinem Französisch kein Unrecht zu tun: „Aah“, weiteres aufrichtig begeistertes Lächeln, „aus Essaouira! Und wie lange waren Sie unterwegs? Drei Stunden?“ Meine Müdigkeit und mein Misstrauen in mein Hörverständnis in der französischen Sprache verhinderten zusammen mit meiner Begleiterin grösseres Ungemach. Vielleicht war ich auch einfach halb taub vom unablässigen Tosen des Windes und verstand ihn deshalb nicht sofort. Ich weiss es nicht mehr. Safi ist jedenfalls toll, und noch heute bekommen meine Gäste Oliven in einer marokkanischen Schale vom dortigen Handwerkermarkt gereicht.
Der Bus nach Safi wäre übrigens lumpige zwei Stündelchen nach jenem nach Essaouira losgefahren. Was für ein Himmelsritt das geworden wäre! Freihändig im Rückenwind dahinsegelnd, wären wir noch vor Mittag des ersten Tages am Ziel angekommen. Andererseits: In der Surferstadt gibt es meines Wissens kein annähernd so prächtiges Hotel, ganz abgesehen davon, dass wir uns nach drei Stunden Segeln auch keine feudale Übernachtung verdient gehabt hätten, oder?
Deshalb liebe ich Velofahrten jeder Länge und mit jeglichem Zweck, egal wo sie stattfinden: Man weiss nie genau, wo sie hinführen, was unterwegs geschehen und woher der Wind wehen wird. Das mag zwar grundsätzlich für jede Reise gelten. Wenn man aber mit dem Velo unterwegs ist, wirkt sich eine unvorhergesehene Abweichung von Zeit- oder Routenplan immer stärker aus, weil meistens durch Muskelkraft reagiert werden muss. Allenfalls mit Köpfchen. Jedenfalls kann auch eine gründlich vom Winde verwehte Velotour ein grosser Erfolg werden. „Vom Winde verweht“ wurde schliesslich auch einer der grössten Erfolge der Kinogeschichte. Wobei Vivien Leigh meiner Meinung nach ja eine Fehlbesetzung war, ähnlich wie die Windrichtung in meiner Story hier.
Bleibt die Frage, weshalb ich das gerade jetzt hier aufschreibe. Die Antwort: Erstens bin ich in letzter Zeit viel Rennvelo gefahren, da denkt es sich weniger gut als beispielsweise einem Tourenvelo, was mit dem stetig wachsenden Verkehr zu tun hat. So sind mir unterdurchschnittlich viele gute Sätze für diesen Blog eingefallen, weshalb ich ins Archiv stieg, um endlich einen Mai-Eintrag zu fabrizieren. Und zweitens habe ich kürzlich eine grössere Menge an Zwiebeln gegessen.
Als versöhnlicher Abschluss eine frohe Botschaft: Das fabelhafte Boneshaker Magazine hat uns den grossen Gefallen getan, einen Podcast zu beginnen! Ob dieser halten kann, was die Reputation des Magazins verspricht, wird sich weisen müssen. Aber die Chancen stehen gut, denn Boneshaker bringt immer wieder Geschichten, die einen sogar vergessen lassen, selber aufs Velo zu steigen. Und das will doch was heissen. Boneshakercast gibt’s über iTunes und natürlich bei Stitcher und damit via App auf jedem Telefon.
Lieber Ab al-Karim
Schöne Geschichten müssen ja nicht aktuell sein, nur schön. Danke fürs pflocken!
Wie war denn Solöhr?
Und die Herbst-Tour: zweite Hälfte September? Obwohl, am 15./16. September explodiert das KKW Gösgen, aber das geht sehr wohl auch ohne mich.
Gute Nacht Marie Curie