Quäl dich, du Sau!

Nach unserem Blogpost mit dem klangvollen Titel „Auf die Knie!“, erschienen am 31. Mai vergangenen Jahres, haben sich auf der Velopflock-Zentralredaktion Körbe von Zuschriften aus der, na ja, S/M-Szene gestapelt. Wie meistens bei kontroversen Themen war auch das Echo in der Kommentarspalte entsprechend überwältigend. Dieses Interesse aus der schmerzlustigen Bevölkerung war natürlich durchaus ein Missverständnis, hat uns aber trotzdem sehr gefreut und hoch geehrt. Denn wir freuen (und wundern) uns grundsätzlich über jeden, der nicht der Redaktion angehört und seine Zeit trotzdem unseren Zeilen widmet.

Als ich all die irregeleitete Fanpost zum Reisswolf karrte, dämmerte es mir wieder einmal, dass die Verbindung zwischen Radfahren und Schmerzwonne gar nicht so eine schwache ist. Zahlreiche Velofahrer finden schliesslich Gefallen am Schmerz, an der Qual, an der Kasteiung. Zum Beispiel die Berufsfahrer. Aber beileibe nicht nur! Man erkennt die Betreffenden am Gesichtsausdruck und und der Körpersprache. Auffällig häufig sind das Rennvelofahrer. Mit zusammengebissenen Zähnen kommen sie um die Kurve gestampft, die Durchblutung des Gesichts stärker als gesund, Schaum in den Mundwinkeln, die Zähne tief ins Lenkerband geraben. Die zittrigen Hände haben sie mit weissen Knöcheln an den Lenker gekrallt, ihre Trittfrequenz liegt irgendwo zwischen sechzig und siebzig, ihr Alter oftmals ebenso. Sie fühlen sich dann jeweils allesamt angesprochen vom deutschen Radprofi Udo Bölts, der seinem Teamcaptain Jan Ullrich während der Tour de France 1997 in einer Steigung zugerufen haben soll:“Quäl dich, du Sau“. Wir entschuldigen uns an dieser Stelle für die Wortwahl, aber da dieses Zitat seither ein Bonmot unter Rennradfahrern ist, darf es hier weder unerwähnt bleiben noch politisch korrekt zurecht gemacht werden. (Ullrich gewann dank dieser raren und rührend unschuldigen Form von Doping übrigens die Tour. Was danach kam, ist traurige Sportgeschichte.)

Obwohl ich mich ebenso gern wie oft zu den Gümmelern zähle, frage ich mich schon, weshalb diese Herren (dieses Detail darf nicht unerwähnt bleiben: die wenigen Rennvelofrauen hierzulande sind definitiv lockerer unterwegs), weshalb die also dermassen pressieren, fragt sich der Beobachter schon manchmal. Natürlich ist ein Rennvelo besonders geeignet, die Freude an der Geschwindigkeit auszuleben. Man kann sogar sagen: Wenn man kein Radprofi, Karbonprotz oder sonst ein Lautsprecher ist, gibt es nur wenige Gründe , sich überhaupt auf ein Rennvelo zu setzen als die Gier nach Tempo (wobei „Tempo“ ganz individuell zu definieren ist). Ein Rennvelo ist nämlich unbequem zum Sitzen, diffizil zum Steuern, teuer zum Anschaffen, aufwendig im Unterhalt und unpraktisch bei Regen oder Dunkelheit. So weit, so gut. Und wer unter Tempo das Stundenmittel von Bradley Wiggins beim Tour de France-Zeitfahren versteht, der muss sich natürlich ganz gehörig ins Zeug legen. Solche Anstrengungen hinterlassen dann halt Spuren in der Ästhetik des Athleten. Das macht erst mal gar nichts, denn wer ein rechter Sportler ist, der treibt den Sport ja um seiner selbst Willen und nicht etwa, um ein bestimmtes Bild abzugeben, jemandem zu gefallen oder anderer Leute Erwartungen zu erfüllen, nicht wahr? NICHT WAHR?

Und doch kann es uns Spassvelofahrern nicht ganz egal sein, wenn überambitionierte Freizeitsportler, wie das die meisten Gümmeler eben sind, in aller Öffentlichkeit ihr Leben aufs Spiel setzen und gelegentlich sogar aushauchen. Das Problem ist dabei nicht allein die belastende Ästhetik, welche hier schon des öfteren besprochen wurde. Darüber hinaus verderben solche hochroten oder kreidebleichen, mit Flüssigkeiten verschiedenster Provenienz verschmierten Gesichter nämlich auch das Image nicht nur der Rennvelofahrer, sondern des Velos an und für sich. Und ein Imageproblem ist das Letzte, was das Velo brauchen kann, wenn es in nächster Zeit als smartes Verkehrsmittel die staugeplagten Städte erlösen oder die vom Klimawandel bedrohte Welt ganz allgemein retten soll. „Wer will denn schon Velo fahren, wenn man dabei so unlocker aussieht und sich auf dem Arbeitsweg das Revers des Anzugs vollsabbert?“ heisst es dann plötzlich, und der Siegeszug des Velos geht abrupt zu Ende:

Jeder einzelne Velofahrer und jede einzelne Velofahrerin steht deshalb als Botschafterin oder wahlweise Botschafter in der Verantwortung, ein positives Bild des Fahrrades als Lifestyle-Tool zu vermitteln. Das schulden sie dem Zeitgeist! Stur lächeln und winken, Männer und Frauen, lächeln und winken!

madagascarLasst uns aller Welt zeigen, wie viel Spass Velofahren doch macht, wie gesund, fit, effizient und kreativ wir alle sind, weil wir eben das Velo und nicht das russige Auto oder den schweissigen öV benutzen! (Oder fahrt wenigstens nicht ständig auf den Trottoirs herum und über Rotlichter drüber, sonst nimmt uns nie keiner ernst.)

Wo wir schon dabei sind: Die Eigenverantwortung hört natürlich ebenfalls nicht schon hier auf. Gewiss: Haben wir Velofahrer erst mal ein properes Image bei mehr als der Hälfte der stimmberechtigten Bevölkerung, kommen kostenintensive Massnahmen zur Verbesserung unseres Velofahrerlebens (wie: schöne Radwege, sichere Abstellanlagen, Steuererleichterungen für Velopendler oder freie Abgabe von Kettenöl an alle) an der Urne höchstwahrscheinlich durch. Aber: da müssen diese Massnahmen erst mal hin, an die Urne. Klingelt die Veloglocke? Es gibt unter Radfahrern, was sag ich, unter allen Bürgern eines demokratischen Staates eine Pflicht, den Finger auf Missstände zu legen und die zuständigen Behörden anständig (bitte anständig bei den ersten drei Anläufen, ja?), aber bestimmt auf diese hinzuweisen. Immer wieder, wenn nötig, und zusammen mit anderen Stimmberechtigten, die gleicher Meinung sind, wenn’s geht. Gibt es keine anderen Stimmmberechtigten gleicher Meinung: vergessen Sie Ihr Anliegen und gehen Sie Radfahren zur Entspannung. Die Behörden machen schliesslich nur, was man ihnen sagt, und auch da sind sie gelegentlich etwas, na ja, behäbig. Aber wenn keiner was sagt, ja dann tun sie sowieso was anderes (nicht nichts, soweit will ich nicht gehen, denn ich bin nicht Mitglied der SVP).

Um endlich auf den Punkt zu kommen: Wir Radfahrer sind viel zu genügsam. Die meisten von uns sind froh und dankbar, wenn sie abends heil daheim ankommen und unterwegs ihr Rad weniger als dreimal auf zehn Meilen schultern müssen. Vielleicht leiden wir unter Minderwertigkeitsgefühlen, weil ein Velo in aller Regel so viel billiger ist als ein Auto. Aber so kommen wir nirgends hin, Brüder und Schwestern! Velofahren auf Schweizer Strassen ist ja ganz in Ordnung, aber geht mal nach Münster, Amsterdam oder Kopenhagen! Erst wer einmal in seinem Leben eine halbe Stunde am Stück auf einem Radweg oder einer Radspur im Strom mit tausend anderen Radfahrern geschwommen ist, weiss, dass das hier bei uns keine artgerechte Haltung von Radfahrern ist!

Und dann ist es einem irgendwann nicht mehr egal, wenn der Radstreifen sich im Nichts auflöst wie Marty McFly’s DeLorean auf Zeitreise; wenn auf dem Radstreifen ein Auto parkt oder die hübschen roten Wegweiser in der fremden Stadt sich als Reiseführer durch sämtliche Aussenquartiere gebärden, aber sorgfältig die direkteste Verbindung zwischen A und B verheimlichen, als handelte es sich um den Code zur Dechiffrierung des russischen U-Boot-Funkverkehrs.

Ihr glaubt mir nicht, stimmt’s? Ihr findet, ich übertreibe, wie alle Radfahrer, die unser autozentriertes Strassenwirrwarr kritisieren, und wenn es wirklich so schlimm wäre, würden sich ja mehr Leute über die Zustände echauffieren. Damit habe ich gerechnet. Darum hier ein Beispiel, um die Lethargie des radfahrenden Stimmbürgers im 21. Jahrhunderts zu veranschaulichen: Ich kenne schon seit vielen Jahren eine Frau, die schon einige Veloreisen in teilweise ferne Länder gemacht hat. Sie besitzt kein Auto und macht den Wochenendeinkauf für ihre inzwischen fünfköpfige Familie häufig mit dem Fahrrad. Das macht sie nicht einfach, weil sie unbedingt Fahrradfahren will am Samstagmorgen, sondern weil ein Auto teurer wäre und mehr Platz in der Garage brauchen würde (den es nicht gibt, weil die Garage ein Fahrradstall ist). Dazu muss man wissen, dass sie auf dem Land wohnt , in einem Dorf ohne Supermarkt. Ist das Wetter schlecht oder hat sie keine Zeit, macht sie den Einkauf mit dem Postauto. Braucht sie besonders viel Katzenfutter oder andere Konserven, leiht sie sich ein Auto in der Nachbar- oder Bekanntschaft. Kurz, sie hat ein pragmatisches Verhältnis zum Fahrrad und betrachtet es nüchtern als ein für bestimmte Situationen geeignetes Transportmittel. Genau wie ich und viele tausend andere Schweizerinnen und Schweizer.

Soweit so gut. Schön wäre es, wenn mehr Menschen das Velo in dieser Weise benutzen würden. Aber auch meine Freundin hat eine dunkle Seite. So wie die meisten von uns. Und die sieht so aus: Manchmal erwähne ich ihr gegenüber, wie schön es doch wäre, wenn dieser Radstreifen durchgängig und mit Belag versehen wäre, jene Radwegverbindung endlich gebaut würde oder die eine oder andere Schnellstrasse einen getrennten Radweg erhielte. Dann antwortet sie zuverlässig gelangweilt oder genervt: „Ach, wozu denn? Es gibt doch schon eine Verbindung auf der anderen Seite des Flusses. Hier kann man doch auch auf der Hauptstrasse fahren, hat ja nicht so viel Verkehr. Wieso alles zuteeren? Fährt ja kaum einer mit dem Velo durch hier. Bist du hier schon mal überfahren worden?“

Ich habe mich inzwischen daran gewöhnt. War nicht schwer, denn viele Velofahrer denken wie sie. Sie scheinen an einem Zwang zur Verdrängung zu leiden. Oder an gestörter Wahrnehmung. „Irgendwie kommt man hier schon durch mit dem Velo.“ Absolut richtig. Bloss: „Irgendwie durchkommen“ reicht nicht! Velofahren soll Spass machen, bequem und sicher sein. Und das nicht nur in den Ferien auf dem Donauradweg, sondern auch am Montagmorgen auf dem Arbeitsweg! Dieses Schönreden von unsicheren Verhältnissen auf Radstreifen und -wegen ist zwar ziemlich paradox in einer Gesellschaft, die in allen Bereichen des Lebens alles zu opfern bereit ist für das Gefühl von Sicherheit. Es passt aber wiederum bestens ins Bild, denn das eigene Verkehrsverhalten wurde schon immer vom Sicherheitswahn ausgenommen, seit es allgemein erschwingliche Autos gibt. Eltern praktizieren auf dem Spielplatz engste Manndeckung an ihrer Brut, damit sich diese ja nicht an einem Holzpfosten stösst oder von der Schaukel kippt, und schnallen sie anschliessend zufrieden in ein Auto und fahren nach Hause. Schizophrenie, die: (Medizin, Psychologie) mit Denkstörungen, Halluzinationen und Wahn einhergehende schwere Psychose. (Quelle: Duden.de)

Deshalb: Unzufrieden sein! Mängel melden! Krediten zustimmen! Und ganz aktuell im Angebot: Die Velo-Initiative von Pro Velo unterschreiben. Logo_Velo-Initiative_d_rgbDie Initiative verlangt eine kleine Anpassung im Artikel 88 der Bundesverfassung über Fuss- und Wanderwege. Dieser Artikel soll künftig mit „Fuss-, Wander- und Velowege“ überschrieben sein. Das stellt das Velofahren in der Bundesverfassung auf die Stufe des Wanderns und Zu-Fuss-Gehens und ermöglicht es dem Bund, das Velofahren und die dazu notwendige Infrastruktur zu fördern, beziehungsweise den Kantonen und Gemeinden Beine zu machen, damit sie attraktive Wegnetze bereitstellen. Worauf warten Sie noch? Nein, es geht nicht ohne, und einfacher wird es nicht mehr, über seinen eigenen Schatten zu springen und sich für das Velo stark zu machen. Also hier unterschreiben, bitte. Danke.

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