Radfahren ist eine so genannte Lifetime-Sportart (yeah, Mann!), also eine Art der körperlichen Ertüchtigung, die sein Leben lang ausüben kann, wer dasmöchte. Das klingt jetzt vielleicht banal, ist es aber keineswegs. Denn wann haben Sie das letzte Mal einer Achtzigjährigen beim Vollkontakt-Karate oder beim Stabhochsprung zugeschaut? Haben Sie schon mal von Seniorenklassen im Gleitschirmfliegen oder von Paintballkursen für Vorschulkinder gelesen? Eben. Solchen Aktivitäten gibt man sich hin, wenn man ausgewachsen, aber jung, robust und dynamisch ist. Hat man aber ein fortgeschrittenes Alter erreicht, frönt man eher gelenkschonenderen Sportarten, die man auch mit reduziertem Lungenvolumen oder leicht eingeschränkter Beweglichkeit betreiben kann. Sprich, auch wenn man die Vierzig überschritten hat. Zu diesen – seien wir ehrlich – raren Tätigkeiten gehört zuallererst das Radfahren.
Radfahren kann man wirklich in jedem Alter, ob man es nun als Sport oder als irgendetwas anderes betreibt (soll mir einer hier mal „Sport“ definieren, bitteschön). In jedem Fall wandelt sich über die Jahre die Art und Weise, wie man es tut. Ebenso verändern sich die Vorstellungen des Fahrers vom Untersatz, auf dem er sich durchs Leben bewegt, während er sich durchs Leben bewegt. Das ist sehr erfreulich, wenn nicht sogar überlebenswichtig, für die Fahrradindustrie. Bei mir ist das nicht anders, und soll es auch nie werden. Ich finde es wichtig, dass jeder einzelne volkswirtschaftlich verantwortlich handelt. Ich kurble die Veloindustrie und ihre Zulieferer an. Und das schon ein Leben lang.
Irgendwann, vielleicht war ich etwa vier Jahre alt, hatte ich gelernt, mich ohne Stützräder auf meinem chopper-ähnlichen Kindervelo zu halten. Es war dunkelrot. Am Lenker flatterte fröhlich ein Wimpel mit dem Emblem des Herstellers, einem fröhlich lachenden Jungen aus Afrika – also das Emblem, nicht der Hersteller. Dieses Emblem war nicht nur ein Emblem, sondern eigentlich die bildliche Darstellung des Namens der Herstellerfirma, leider kann man dieses Wort heute man es aus Gründen der political correctness nicht mehr verwenden. Der Sattel dieses Velos war weit mehr als dreissig Zentimeter lang und hatte eine Lehne sowie drei Sattelstützen: eine im Sattelrohr, zwei auf der Hinterradachse abgestützt. Halt etwa wie ein Bonanzarad, aber nicht das Original (und meins war rot).
Als ich die erste Stufe zweirädriger Mobilität also gemeistert hatte, begann ich, von einem BMX-Rad zu träumen. Das war gerade furchtbar schick und ausserdem in der Sendung „Sesamstrasse“ im Fernsehen zu bewundern. Ich habe nie ein BMX-Rad bekommen, was mich heute froh macht, denn die hatten damals alle gelbe Kunststoff-Laufräder. Damals aber war ich enttäuscht. Es tröstete mich mit Leichtigkeit ein ordinäres Knabenvelo, mit gerader Lenkstange und einer klassischen Sturmey-Archer-Dreigangschaltung. Wieder in rot, aber etwas heller. Meine Haare wehten im Wind, so gut sie konnten. Irgendwann, in einem Frühling voller Giro d’Italia-Etappen am Fernseher, musste dann ein reinrassiges Rennrad her. Schnurstracks demontierte ich Beleuchtung, Gepäckträger und Schutzbleche von meinem Jugendvelo (erneut in rot, nun endlich mit 28-Zoll-Rädern) und wunderte mich ausführlich, wieso nun immer noch kein Rennrad vor mir stand. Eine weitere Enttäuschung, welche ich verarbeitete, indem ich statt eines Rennlenkers nun einen nach hinten gewinkelten Damenlenker anschraubte und mir vormachte, ich wäre nun Eigentümer eines Fiets, eines Hollandrades also. (Diese Illusion zerplatzte wenige Jahre später während eines Aufenthaltes in den Niederlanden. Siehe weiter unten.)
Bald kam ich in ein Alter, in welchem die meisten Menschen koordinativ in der Lage sind, mit Pedalhaken umzugehen. Und nun wird diese Geschichte etwas kompliziert, denn erstmals in meinem noch jungen Leben (ich besuchte inzwischen die Sekundarschule) durfte ich zwei Fahrräder gleichzeitig mein eigen nennen, ein Zustand, der sich bis heute nie mehr verändert hat – das Gegenteil ist der Fall. Ich ersparte und erbettelte mir also ein reinrassiges Rennrad. Es war – nein, sondern blau! Verchromte Gabel, wie damals üblich! Schmaler Rennsattel! Colléreifen mit Collékitt (zum Leidwesen meiner Mutter, die zu der Zeit meine Wäsche erledigte)! Kein Licht, keine Schutzbleche, kein Gepäckträger, keine Klingel! Pure Technik. Pure vierzehn Kilo, denn man beachte: wir befinden uns Mitte der Achtziger. Einige Gramm stammten von der Aluminium-Velonummer und der zugehörigen Halterung. Mit dieser Strassenmaschine verliess ich erstmals regelmässig und alleine unsere Stadt. Die Welt rückte zusammen. Dörfer, Ortschaften, Flüsse, deren fremdartig klingende, verheissungsvolle Namen ich erst zwei Klassen zuvor im Geografie-Unterricht erstmals vernommen hatte, waren nun mit Muskelkraft erreichbar für mich! Abenteuer! So aufregend konnten Nachbardörfer sein.
Zurück aber zu den technischen Aspekten dieser aufregenden Zeit. Auf der erwähnten Reise nach Holland mietete ich ein echtes Hollandrad, ein Fiets eben. Schlagartig war mir klar, dass dies die Zukunft sein musste. Man fuhr nicht, man schwebte. Man lenkte nicht, man bat sein Fiets in Gedanken höflich und nie vergeblich um eine Richtungsänderung. Wenige Jahre später hatte ich mir ein solches Fabelrad zusammengespart: Drei Gänge, Rücktrittbremse, Kettenkasten, gepolsterter und gefederter, breiter Sattel, Rockfänger am Hinterrad (doch, es war ein Herrenrad). Rot wieder, aber nun gut, immerhin dunkelrot. Einer meiner Lehrer am Gymnasium, der Deutschlehrer erst noch, sollte den Farbton später als die Farbe von Heidelbeerjoghurt bezeichnen. Ich konnte mich nicht in angemessener Weise wehren für mein Fiets, war ich doch von dem Lehrer abhängig wegen der ganzen Prüfungen und Promotionen! Ich machte es mir nun zur Aufgabe, den ganzen Weg von meiner Schule nach Hause freihändig zurückzulegen, was dank der Rücktrittbremse nicht einmal für mich eine besondere Herausforderung blieb. Dieses Hollandrad sollte mich durch mein frühes Berufsleben und meine Studienjahre begleiten. Es stand zwischen mir und dem ersten Mädchen, das ich küsste, in besagtem Moment, also im wörtlichen und nicht im übertragenen Sinn, nein! Mit dem Rad fuhr ich zu Abschluss- und Aufnahmeprüfungen, Berufsberatern und Bankkaufleuten, zum Fussball und zum Freibier. (Ich weiss, zu Demos und Dirnen würde hier auch ganz gut passen, wäre aber der Wahrheit dann doch zu stark nachgeholfen.) Kein Wunder also, dass ich den endgültigen Abschied von meinem Fiets bis heute nicht vollständig verwunden habe. Wenigstens habe ich einen besonders idyllisch gelegenen Schrottplatz auf einer Waldlichtung im Zürcher Oberland für diesen schweren Schritt ausgesucht. So wie die Gründung der Urschweiz oder die Unterzeichnung der Kapitulation Deutschlands vor Frankreich, welche den ersten Weltkrieg beendete. Hänsel und Gretel, die von ihren Eltern ausgesetzt wurden. Alles Waldlichtungen. Es war ein angenehm warmer, sonniger Frühsommermorgen, als ich mein Fiets vor dem Schrottplatz zum letzten Mal an mich drückte. Doch genug nun! Sprechen wir wieder von der Technik!
Was meine Fortbewegung im Alltag betrifft, folgten Jahre ohne Rast und Ruh. Damit will ich nur sagen, dass ich von nun an alle paar Monate ein anderes Rad benutzte, um zur Arbeit oder zur Uni zu fahren. Zwischenzeitlich wuchs die Fahrradpopulation unter meinem Dach auf sieben Stück an, denn das Mountainbike war erfunden worden. Dass man Militärvelos der alten, schwarzen Sorte kaufen sollte, wenn man eines angeboten kriegt, hatte sich auch bis zu mir herumgesprochen. Ich erinnere mich sogar an ein paar Monate in meinem Leben, da besass ich kein einziges rotes Velo.
Andererseits musste ich rasante Entwicklungen bei den Rennrädern mitmachen. Klickpedale fand ich sofort gut, denn mein Held Bernard Hinault benutzte sie eines Tages ohne Vorankündigung als Erster in einem Giro-Zeitfahren, und ich sass dabei vor dem Fernseher und dachte: Was für eine Todesverachtung! Später: Mountainbike oder nicht? Aluminium statt Stahl! Vignette statt Plakette! Biopace-Kettenblätter, Klickschaltung, Drehgriff, Magnetdynamo, gefederte Sattelstütze! Hinterradfederung, Scheibenbremse, Slope-Rahmen und so weiter, und so fort. Die Spirale drehte sich immer schneller.
Faszinierend war es, all die neuen Entwicklungen kommen und (viele von ihnen auch ganz schnell wieder) gehen zu sehen. Herausfordernd, wieder und wieder vor die Frage gestellt zu sein, ob man eine Entwicklung unterstützen sollte oder nicht, ob es sich um einen kurzlebigen Trend oder um eine Revolution handelte. Daran konnte man als Mensch wachsen und reifen wie eine Tomatenstaude an einem Zentner Hornspäne. Eine einzige Lebensschule, während beispielsweise die allermeisten Autofahrer doch schon allein aus wirtschaftlichen Gründen solch gravierende Entscheidungen nur ganz selten treffen müssen oder dürfen und jahrelang mit derselben Büchse herumgurken müssen. Ohne die eben beschriebene Charakterschulung.
So prägten meine Velos meinen Lebensweg. Ich gebe gerne zu, dass ich heute alle meine Erinnerungen zeitlich nach den Fahrrädern ordne, die ich zu der betreffenden Zeit gerade besass. „War das jetzt vor oder nach dem Koga Miyata?“ – „Ach, der ist jünger als mein Batavus?“ „Elf Jahre gehen die erst zusammen? Da hab ich mein Rennvelo ja schon länger!“ Argentinien wurde zum ersten Mal Fussball-Weltmeister, da verfügte ich über drei nabengeschaltete Gänge. Die Sowjetunion brach zusammen, als ich das Hollandrad und mein zweites Rennrad besass (rot, ironischerweise, weisser Sattel, verchromte Gabel). Tschernobyl bekam ich nicht so recht mit, ich war gerade mit meinem ersten Mountainbike und seinen unglaublichen achtzehn Gängen beschäftigt. Beim Fall der Berliner Mauer hatte ich bereits drei Fahrräder. Als das Internet aufgespannt wurde, hatte ich gerade meine kurze Rennfahrerkarriere auf einem gelb-grauen Stahlrahmen beendet, der mich noch lange begleiten sollte. Während ihrem ersten Wochenbett fuhr ich auf einem viel zu kleinen (roten, seufz) Siebengänger mit Damenlenker ins Krankenhaus, um meine Frau und unsere Tochter zu besuchen. Und zur gegenwärtigen Wirtschaftkrise gab ich mutig Gegensteuer, indem ich mir ein Faltrad zulegte.
So schön kann Radfahren sein! Natürlich braucht es nur ein einziges Velo, um diese Tatsache zu erfahren. Trotzdem wurmt es mich bisschen, dass ich bis heute mit mehr als zwei Fahrrädern nur fahren kann, wenn ich einen Anhänger benutze. So gesehen ist der Ausdruck „Lifetime-Sportart“ nämlich unzutreffend: Man braucht weit mehr als ein Leben, um alle Facetten des Velofahrens wenigstens oberflächlich kennen zu lernen. Entschuldigt, nun muss ich zurück zum Veloputzen.
2 Gedanken zu “Velofahren und Monogamie”