Radfahrers Sonntagsgebet (Entwurf)

(Titelfoto: capovelo.com)

(Hinweis: der nachfolgende Text ist in einer Form abgefasst, die der eines privaten, persönlichen, etwas kindlichen Gebets entspricht, wurde aber nie so an den Herrn gerichtet, nicht zuletzt, weil es angesichts der Weltlage lächerlich irrelevante Themen behandelt. Praktizierende Christen können es vielleicht als gotteslästerlich missverstehen – im Zweifelsfall bitte nicht weiterlesen, sondern stattdessen gleich hier reingucken.)

Lieber Gott

Ich möchte dir erst mal danken für die schöne sonntägliche Ausfahrt auf meinem Rennrad, die ich eben erleben durfte. Danke, dass du deinen Winden befohlen hast, just zu der Zeit zu drehen, als ich in der Gegend des Wendepunktes meiner Hin-und-Zurück-Tour war. So konnte ich auf sicherlich vier Fünfteln der Strecke mit Rückenwind fahren. Ganz nach der Methode meines Onkels Franz. Ich hoffe, du bist so stolz auf mich wie ich auf meine Durchschnittsgeschwindigkeit! Und danke, dass du meinem Velo die Kraft gegeben hast, mich den ganzen Weg zu tragen, ohne Schwäche und ohne Klagen.

Und wo wir grad so schön am Plaudern sind, lieber Gott, möchte ich, wenn ich darf, in aller Bescheidenheit ein ganz kleines bisschen Kritik an deiner Weltenführung anbringen – wirklich nur marginaler Art, und ich erwarte nicht, dass da nun gleich etwas geschieht, du hast weiss Gott beileibe wichtigere Baustellen. Das ist mir vollkommen bewusst. Also.

Mit Verlaub: So war das nicht gemeint, als wir in diesem Blog der Velo-Industrie empfahlen, sich ein paar clevere Tricks und Moves von den besten in der Mobilitäts-Szene abzuschauen, nämlich von der Automobilindustrie, also von Autoherstellern, Ölkonzernen und Strassenbauern. Von diesen zu lernen, wie man den Markt zu seinen Gunsten beeinflusst, indem man manchmal die Samthandschuhe ablegt und rustikalere Methoden anwendet. Und zum Beispiel unnötigen Schnickschnack in eine an sich recht gut am Kundenbedürfnis orientierte Maschine einzubauen, um diese etwas teurer verkaufen zu können. Dieser an sich nutzlose Schnickschnack könnte anschliessend wiederholt in kleinen Schritten verbessert verändert werden, um beim Kunden das Bedürfnis nach dem neuesten Modell zu wecken. Diesen letzten simplen Trick haben die Velohersteller offenbar begriffen, wie die Verkaufszahlen von E-Bikes, Scheibenbremsen oder elektrischen Schaltungen zeigen.

Und als wir an anderer Stelle schrieben (ich kann sie grad nicht finden auf unserer Website), dass das Fahrrad Opfer seines eigenen Erfolges sei, haben wir das auf den Alltagsverkehr bezogen. Das Velo als Transportmittel könnte zur Lösung vieler Probleme in unserer Welt beitragen – nicht nur im Umweltschutz, auch in der Mobilität, in der Gestaltung von lebenswerten Städten, in der Gesundheitsvorsorge. Nicht zuletzt macht es gute Laune, und gut gelaunte Menschen treffen klügere Entscheidungen und sind glücklicher als missmutige. Dieses Potenzial ist derart riesig, dass viele Leute misstrauisch werden und das Fahrrad stehen lassen. Das geht so weit, dass der Veloverkehr sogar aussen vor gelassen wird, wenn es um die Planung unserer Lebensräume geht. Aber wem sage ich das? Du weisst das ja alles selbst am besten, denn du hast uns und das Velo und sie Strassen und Wege ja geschaffen.

Was du übersehen haben magst – kein Vorwurf hier! – ist folgendes: Im Freizeitverkehr sieht es etwas anders aus. Der läuft seit einiger Zeit etwas aus dem Ruder. Daran bist nicht du, Gott, schuld, sondern eben die Veloindustrie, die Menschen selber und ziemlich stark die doofe Pandemie, die du uns vor einigen Jahren über uns gekommen ist. Ich sehe das so: mit der Pandemie hat der Teil der Menschheit, der das nicht schon längst getan hat, die Natur, die frische Luft, die Bewegung darin für sich entdeckt. Dieser Teil hat sich 2020 bei den ersten Lockdowns unverzüglich mit Sportgeräten (Langlaufski! Gravelbikes! E-Mountainbikes!) eingedeckt und mit Ausrüstung dazu (Joggingschuhe! Trinkblasen! Grossflächige Sport-Sonnenbrillen!). Und während vieles davon nun, vier Jahre nach Beginn der Pandemie, auf Online-Marktplätzen oder in Kellern herumliegt, leben viele Menschen weiterhin ihren eben teilweise neu entdeckten Bewegungsdrang aus. Das ist eine schöne Entwicklung, der Traum jedes Sportamtes sozusagen, denn was alle Präventionskampagnen nicht geschafft haben, war für die Viren bloss ein Kollateral-Effekt: Die Menschen in Horden zum Sporttreiben zu bringen. Das ist sicher positiv für die weitere Entwicklung der Gesundheitskosten.

Aber blick einmal an einem Sonntag im Frühjahr – also so wie heute – auf einen Velo-, Feld- oder Waldweg herab. Dort geht es ab ca. elf Uhr morgens, also nach dem Kirchgang, zu und her wie an der OLMA: Da drängeln sich Menschen aller Altersklassen, unterschiedlichster sozialer Schichten, mit den verschiedensten Fortbewegungsmitteln oder auch ganz ohne, mit stark unterschiedlicher Geschwindigkeit. Eine schöne Entwicklung, denn da draussen sind sie alle glücklicher und zufriedener als zu Hause auf ihren abgewetzten Sofas. Aber lass mich nun von der Kehrseite reden! Auf diesen Wegen stellt sich sonntags nach dem Kirchgang nämlich zuverlässig Dichtestress ein. Und dann werden die einen unzufrieden und schlecht gelaunt, und die anderen kommen nicht mehr vorwärts. Ganz viele erleiden gleich beides.

Ich kenne da zwar ein Mittel dagegen, aber das macht mich auch nicht recht glücklich: Ich gehe inzwischen an einem schönen Sonntag gar nicht mehr velofahren. Aber zufriedener bin ich dann am Sonntagabend nicht. Auch nicht, wenn ich stattdessen im Fernsehen eine Frühjahrs-Classique angeschaut habe (dort, immerhin, drängeln sich die Leute am Strassenrand und lassen die Gümmeler in der Mitte durch – was für eine tolle Welt!).

Darum, lieber Gott, und ich komme nun zum Ende, danke für deine Zeit: Schick doch einfach an den Wochentagen ganz viele Leute auf ihren Velos zur Arbeit und lass sie dafür am Wochenende zu Hause ihren Frieden finden. Erstens wird das die Gemeinden und Kantone dazu bringen, mehr Velowege zu bauen, um die Massen an eifrigen Velopendlern zu besser und sicherer zu lenken. Und zweitens werde ich dann wieder am Wochenende Rad fahren gehen können. Ebenfalls in Frieden. Danke vielmals!

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