Haftete dem Rennvelo in den Neunzigerjahren selbst als Freizeitsport noch etwas Dubioses, weil damit auch dopingverseuchte Radrennen gefahren wurden, so hat der Wind seither deutlich gedreht. In den letzten Jahren schwangen sich Horden von Sportbegeisterten in den Rennradsattel. Das ist gleichzeitig erfreulich und interessant.
Es schaudert einen noch heute, wenn man an die Neunziger- und noch weiter zurückliegende Jahre denkt und wie man sich damals als Hobbyradsportler durch die Landschaft bewegt hat: Die an sich schönen Stahlrahmen waren nicht selten in Neonfarben gehalten, und die Pedalöre waren ausschliesslich Männer und trugen – mangels echter Alternativen – furchtbare Teamtrikots, dazu passende oder einfach schwarze Radlerhosen und kurze weisse Socken. Damals war das für uns in Ordnung, denn wir kannten ja nichts anderes, und heute können wir darüber lächeln, uns zurücklehnen und in Kaffeetischbüchern über die hässlichsten Teamtrikots der Geschichte blättern. Dazu lächeln wiram besten überlegen und murmeln so etwas wie „Ja, da bin ich auch dabei gewesen.“ Aber Leute, wir sprechen von sowas:
Und sowas:
Alles längst vorbei, zum Glück, auch wenn es damals durchaus auch museumswürdige Hemden gab:
Wie gesagt: Alles vorbei. Denn irgendwann kam Bewegung in den Volksradsport, und interessant: das passierte, weil die olympischen Spiele 2012 nach London vergeben wurden, worauf irgendwer in Grossbritannien beschloss, dass an diesen Spielen sämtliche Radsport-Medaillen im Land zu bleiben hätten. Sichtungs- und Förderprogramme, Velodrome und Teams wurden aus dem Boden gestampft, denn in Grossbritannien gab es eine lange und reiche Tradition im Radsport – auch wenn bis dahin Festlandeuropa kaum Notiz davon nahm, vielleicht mal abgesehen vom unglücklichen Tom Simpson und von Sprintrakete Sean Kelly (unglücklicherweise ein Ire, aber das nahmen wir nicht so genau). Und dann kam ein Hersteller von Fahrradbekleidung, der sich als erster in der Geschichte Mühe gab bei der Gestaltung seiner Ware. Daraufhin brachen alle Dämme: Die Briten gewannen wirklich fast alle Radrennen auf Bahn und Strasse in London, darüber hinaus haufenweise Tours de France, und die Jedermanntreter liessen sich nicht lumpen und leisteten sich die sündhaft teuren und todschicken Trikots, Hosen und Socken, um ihre ferrarimässig protzigen Karbonvelos spazieren zu fahren.
Mitte der Zehnerjahre war Rennvelo bereits das neue Golf, wenn es für Businessleute (immer noch vor allem Männer) darum ging, bei lockerem (oder weniger lockerem) Freizeitgeplänkel Geschäfte abzuschliessen. Anbieter von designter, schlicht daherkommender Radsportmode mit Trikotpreisen über 200 Euros gab es da bereits unüberschaubar viele, oft von namhaften Modemachern gezeichnet. Zu guter Letzt kam noch die Pandemie hinzu, und Velos wurden systemrelevant, weil alle, alle sich an der frischen Luft bewegen wollten.
Aus all diesen Gründen dürfte sich die Zahl von Rennradbesitzerinnen und -besitzern seit 2015 gefühlt verdreifacht haben, nachdem zu Beginn des Jahrtausends noch kein Weg und keine Strasse am vollgefederten Mountainbike vorbei geführt hatten.
Warum aber diese längliche Einleitung, für die ich nur halbherzig um Entschuldigung bitte? Weil Rennradfahren auch in den smartesten Kleidern mitunter eine monotone Angelegenheit sein kann. Dann ist Abwechslung gefragt, und die kann darin bestehen, die Umgebung zu beobachten, Wiesen, Wolken und Vögel beispielsweise – oder, noch besser, die Radsportler, die einem entgegen kommen oder einen überholen. Dann bietet es sich an, zu erraten, ob es sich bei denen um langjährige Gümmeler (schweizerdeutsch für – eher verbissenen – Rennvelofahrer, unter Lesern des Tour-Magazins als Brägelmann bekannt) oder um eine erst kürzlich auf den Trend aufgesprungene Person handelt. Frei nach dem Buch der Bücher (Erster Brief des Johannes, Kapitel 2, Vers 1 bis 6): An ihrem Treten sollt ihr sie erkennen. (Übergänge sind fliessend, wie immer.)
Die Neulenker, nämlich,
- sind an Waden oder Armen tätowiert
- tragen gern schwarze oder zumindest einfarbige Trikots in gedeckten Farben, schwarze Helme, auf Rädern, die samt den Speichennippeln schwarz sind
- treten eine Trittfrequenz unter achtzig, auch in der Ebene
- fahren im Wiegetritt ohne zu wiegen, der Körperschwerpunkt bleibt dabei über dem Sattel
- halten den Lenker sogar in einer Steigung oder beim gemütlichen Rollen unten
- treten als Paare mit identischen Velos auf
- montieren am Rennrad eine Satteltasche von der Grösse eines mittleren Rucksacks
- tragen unter dem Helm eine Velomütze
Natürlich zeigen sie selten mehr als zwei oder drei dieser Verhaltensweisen gleichzeitig – obwohl theoretisch alle aufs Mal möglich sind!
Die langjährigen Rennradler auf der anderen Seite sind von den Neulenkern leicht zu unterscheiden. Sie
- zeigen ein verbissenes Gesicht mit gefletschten Zähnen und etwas Schaum davor
- haben rasierte und braungebrannte Beine
- fahren die aerodynamischsten der aerodynamischen Laufräder
- beherrschen das Windschattenfahren (nur zu erkennen, wenn sie nicht alleine unterwegs sind)
- geben ihrem Hintermann Handzeichen, um ihm Schäden im Belag anzuzeigen
- tragen abgewetzte Rennschuhe oder aber enganliegende Überschuhe
- versuchen, in deinem Windschatten zu bleiben (sofern es dir denn gelingt, sie zu überholen)
- fahren Felgenbremsen
Diese Typologie ist aber bloss eine oberflächliche Deutung, nicht abschliessend und keinesfalls gegen die betreffenden Radsportler gerichtet! Ist doch nur Spass! Velofahren macht in jeder Facette Freude und schafft Erlebnisse, und je mehr Menschen das praktizieren, desto besser wird die Welt!
Eines bleibt am Ende allen Rennvelopiloten gemeinsam: die Ambivalenz der enganliegenden Radhose mit Sitzpolster. Auf dem Rennrad unverzichtbar, auf der Netzhaut der reinste Atompilz. Aber das hatten wir ja bereits: reine Geschmackssache.