Velopendeln, richtig minidramatisch.

Wer sich oft mit dem Velo beschäftigt – nicht mit seiner Wartung, Reparatur oder dem Fahren selbst, sondern auf einer gedanklichen Ebene – der kommt eher früher als später zur Frage: „Warum fahren eigentlich nicht mehr Leute häufiger Fahrrad, wo es doch so praktisch, schön und billig ist?“ Wer sich daraufhin gegenüber seiner Umgebung als begeisterte Alltags-Velofahrerin zu erkennen gibt, die sieht sich früher oder später, aber todsicher, mit einer anderen Frage konfrontiert: „Warum fährst du denn heute nicht Velo, hm? Zu kalt? Zu unbequem? Zu anstrengend? Na?“

Als Fahrradpendler wurde mir diese Frage schon häufig gestellt, meist mit einem Unterton, der im Bermuda-Dreieck zwischen Sarkasmus, Häme und Mitleid anzusiedeln ist. Vorgestern konnte ich die wohlvertraute Szene erstmals von aussen mitverfolgen. Als alter, wenn auch windiger Freund des Theaters möchte ich der Welt dieses Stück nicht vorenthalten. Wikipedia kennt nicht weniger als 79 Genres des Theaters, und die haben teilweise zahlreiche Untergenres. Nach eingehendem Studium der Liste ist klar geworden, dass ich Zeuge eines Minidramas war. Minidramen sind häufig deutlich kürzer als eine Viertelstunde und „oft grotesk, absurd oder makaber“ – die Zuordnung war also ein No-brainer.

Die Personen:

  • Mitarbeiter Eins, wenige Jahre vor der Pension, eingefleischter Autofahrer („Das Fahrrad passt eben einfach nicht in meinen Tagesablauf!“), Besitzer eines muskulösen BMW-SUVs mit Trittbrett und bar jeglicher Gebrauchsspuren sowie zweier E-Mountainbikes identischer Bauart, eins in Blau, eins in Rot
  • Mitarbeiter Zwei, wenige Monate im Betrieb, ca. 30 Jahre alt; Velopendler (15 km Arbeitsweg) und Langdistanzradfahrer

Ort: Dreierbüro in mittelgrossem Betrieb; am dritten Tisch sitzt Mitarbeiter Drei (der Schreibende; mit dem Fahrrad angereist), emsige Geschäftigkeit vortäuschend, aber ganz Ohr.

Zeit: Gegenwart, Freitagmittag im Januar, milde Witterung, trockene und schneefreie Verhältnisse auf den Strassen und Wegen.

M1 zu M2 (angeregter Tonfall): Und, bist du auch heute mit dem Velo zur Arbeit gekommen?

M2: Nein, heute nicht, ich…

M1: Heute ist es auch dir zu kalt, oder?

M2: Nein, das nicht, aber ich fahre heute Abend direkt zu meiner Freundin, nicht nach Hause, und will mein Velo nicht übers Wochenende hinter dem Haus stehen lassen.

M1: Ist aber schon kalt zum Velofahren jetzt, nicht? Und gefährlich, mit der Eisglätte und der Dunkelheit, oder?

M2: Nicht unbedingt, aber eben…

M1 (auf den Bildschirm schauend, tippend, auf die Arbeit konzentriert): Mh, mh…

(Vorhang)

Es kursieren verschiedene, teilweise leicht längere Varianten des Stücks. Gegeben wird es an garstigen Winter-, verschneiten Frühlings-, stark verregneten Sommer- oder stürmischen Herbsttagen – das Muster ist immer dasselbe: Eine Autopendlerin bringt ungefragt und unvermittelt das Thema Velopendeln auf, wenn sie eines velopendelnden Kollegen ansichtig wird, meist aus einem von zwei Gründen, vielleicht auch aus beiden, wer weiss das schon so genau:

  1. Sie will hören, dass es am betreffenden Tag nicht einmal von ihr hätte erwartet werden können, mit dem Velo anzureisen.
  2. Sie will klarstellen, dass das Velo nicht zum Verkehrsmittel für den Alltag taugt, denn nicht einmal die grössten Spinner benutzen es an jedem einzelnen Arbeitstag.

Interessantes Detail: Diese Abwehrhaltung nimmt die Autopendlerin immer aus freien Stücken ein, ohne dass ihr jemand einen Vorwurf gemacht hätte, weil sie mit dem Personenkraftwagen zur Arbeit gekommen ist. (Wer würde auch sowas Dummes tun!)

Spontaneität ist meine Sache nicht, daher reagiere ich, wenn ich in der Rolle von M2 bin, meist in der Art: „Och, geht so, wenn man sich warm / wasserfest anzieht, ginge das schon, aber heute, ähm…“, und ich lasse dann tatsächlich eine Rechtfertigung folgen. Damit soll nun aber Schluss sein. Nächstes Mal werde ich auf den Eröffnungssatz des obigen Minidramas äusserst gelassen und souverän entgegnen: „Nein, natürlich bin ich heute nicht mit dem Fahrrad da, wo denkst du hin! Du bist ja bestimmt auch nicht mit dem Auto gekommen, bei dem Benzinpreis / den Parkplatztarifen / den Staumeldungen / deiner Wampe / der Klimaerwärmung / [eigener Vorschlag].“ Und dann freue ich mich auf M1′ Rechtfertigung. Die Aufführung wird ruiniert sein, aber das geht in Ordnung.

Interessant: weniger als eine Stunde nachdem ich Zuschauer in der obigen Aufführung gewesen war, stiess ich im Internet – natürlich ausserhalb der Arbeitszeit, danke für die Frage – auf Vermittlung von Bikesnob New York City auf diesen Cartoon:

„Wir sollten die Gesellschaft ein wenig verbessern.“ – „Aber du nimmst dennoch an der Gesllschaft teil. Eigenartig! – Ich bin sehr intelligent.“

Mir wurde schlagartig bewusst, wie viel besser als der Bauer im Mittelalter wir als Velopendler es doch heute haben: Wir müssen nicht einmal Kritik äussern, und dennoch steigt der Klugscheisser zuverlässig aus seinem Brunnen, um uns zu helfen! Wir sollten also demütig sein und dankbar für unsere aufmerksamen Mitmenschen und das nächste Mal, wenn wir ihnen auf der Strasse begegnen, ihnen freiwillig aufs Trottoir ausweichen oder uns gleich in Luft auflösen.

3 Gedanken zu “Velopendeln, richtig minidramatisch.

  1. Liebes Velopflock-Team
    Wie ich doch gelacht habt ab diesem Beitrag. Schon hundertmal erlebt, noch nie so schön in Worte gegossen. Ich kann mir die Szene in eurem Büro lebhaft vorstellen 🙂
    Winterliche Velogrüsse

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