Jede Jahreszeit hat ihre Rituale: Im Sommer sind die grossen Ferien, im Herbst ziehen die Zugvögel in den Süden, im Winter sehnt man sich den Frühling herbei, und im Frühling, da verkündet der Branchenverband der Schweizer Velolieferanten, velosuisse, die Verkaufszahlen der Fahrradbranche für das vergangene Jahr. Seit etwa zehn Jahren geht es in dieser Statistik hauptsächlich um die Zuwachsraten der E-Bike-Verkäufe. Jedes Jahr werden mehr E-BIkes verkauft als im Vorjahr. Grosser Jubel in den Medien. „Bald wird jedes zweite Velo auf den Schweizer Strassen ein E-Bike sein!“ stand schon zu lesen, und man fragt sich: „Erstaunlich, aber warum ist das eine tolle Sache?“ Ausserdem werden in jedem Jahr immer noch deutlich mehr mechanische als E-Bikes verkauft: 2021 waren es 306’000 gegenüber 187’000. Die Schere geht also auf, denn auf den Strassen sind ja immer noch all die Velos aus den Vorjahren!
Der Grund ist natürlich das Grundinteresse des Branchenverband, dass es seinen Mitgliedern gut gehen möge, und ein E-Bike bringt nun mal in Schnitt mehr Geld in die Kassen als ein mechanisches Velo. Marketing, das als Marktreport getarnt ist – nicht von schlechten Eltern! Oder eigentlich doch.
Dieses Jahr verfeinert velosuisse die Taktik noch. Sie rühren in ihrem Bericht ans Innerste des Konsumenten, seine tiefsten und innigsten Gefühle, und geben dem am besten verkauften Typen von E-Bike die süffige und für sich selbst sprechende Bezeichnung Das E-SUV-Bike! Das elektrisch unterstütze sportlich-nützliche Fahrrad.
„E-SUV-Bikes sind voll- oder vorderradgefederte E-Bikes mit kompletter Citybike-Ausrüstung (inkl. Schutzblechen und Gepäckträgern) und voluminös bereiften 28-Zoll-Rädern, die so zu 29-Zöllern werden. Das zeigt, dass sich die Käuferinnen und Käufer alle Optionen offenhalten, wenn ein neues E-Bike angeschafft wird. „
Damit kommt die Fahrradbranche endlich einer seit Jahren immer wieder von diesem Blog vorgebrachten Forderung nach: Learn from the best! Also einfach denen über die Schulter schauen, die vor Jahrzehnten das Heft auf unseren Strassen in die Hand genommen und uns hunderte Millionen von fossil betriebenen Gehhilfen verhökert haben! Und die Velobranche hat das gut gemacht, denn schreibt man „E-SUV-Bike“ ins Suchfeld eines beliebigen Browsers, so wird einem bald schon dieses BIld hier vorgeschlagen (es stammt von einer E-Bike-Themen-Website):

Nun haben wir also zweierlei sports and utility vehicles auf unseren Strassen: das bekannte Lieblingskind des Schweizer Autokäufers und den neuen Burner unter Velofahrenden. Das MIV-SUV und das LV-SUV, sozusagen, wobei MIV für motorisierter Individual-Verkehr und LV für Langsamverkehr steht.
Nun mag man mich kleinlich schimpfen, aber ist das hier tatsächlich motorisierter Individualverkehr?
Motorisiert sind die alle, gewiss. Aber bereits bei I wie individuell kommen auf der rechten Fahrbahn gewisse Zweifel auf. Und unter V wie Verkehr erwartet man ja eigentlich hoffnungsfroh eine gerichtete Bewegung. Nun ja.
Doch auch der bescheiden-schweizerische Begriff LV für Langsamverkehr hält einer oberflächlichen Prüfung kaum stand. Warum brüllen denn immer wieder besorgte rechtskonservative Politiker nach allen möglichen Formen von Helmobligatorium für Radfahrer@innen, wenn diese ja bloss behutsam-langsam unterwegs sind? Was soll uns denn passieren? Wenn wir seitwärts wegkippen, stützen wir uns zur Not halt auf ein Auto, denn ohne Autos gäbe des den Begriff Langsamverkehr ja gar nicht. Dann wären wir nämlich schnell unterwegs:
Während ich gerne schneller mit dem Velo in unseren Städten unterwegs wäre, störe ich mich am Begriff „Langsamverkehr“ gar nicht. Ich finde ihn nachgerade schnuckelig oder gar putzig, und wer kann etwas gegen Putzigkeit haben?
Denn der Begriff Langsamkeit für ein Phänomen, das erst gerade 1983 in der Arktis entdeckt worden ist, ist in unserer Gesellschaft durchaus positiv besetzt. Entschleunigungsseminare und Achtsamkeits-Wochenenden haben regen Zulauf, und Slowfood läuft Fastfood langsam, aber sicher den Rang ab. Eine besonders hübsche Schneckenart steht auf der Shortlist für das Tier des Jahres 2023, und nicht etwa die Gepard#innen. Und ist nicht unser täglicher, den ganzen Tag lang herbeigesehnte Feierabend untrennbar mit Langsamkeit verbunden?

SUV, sports utility vehicle, lässt sich übersetzen als Sport- und Nutzfahrzeug. Was hat es damit auf sich?SUV ist in unserer Gesellschaft zu einem Kurzausdruck geworden für die Geisteshaltung „Ich mache zwar nie und habe auch noch nie, aber wenn ich denn eines Tages wollte, dann könnte ich, eil ich das DIng dazu besitze, und das lasse ich mich auch gern was kosten!“ Sport und Auto verhält sich wie Schneeball und Flammenwerfer, und was die Utility angeht, da muss man neben Hub- und Kofferraum auch Tank- und Parkraum anschauen. Da relativiert sich der Ausdruck nützlich dann einigermassen.
Lange bevor der Begriff des SUV ersonnen wurde, war die Ur-Form des SUV weit verbreitet. Man nannte es Fahrrad. Ich würde sogar so weit gehen und sagen, das Velo ist das einzige wahre SUV überhaupt! Ein Rasenmäher zum Draufsitzen, zum Beispiel, ist richtig praktisch, aber völlig unsportlich. Eine Hantel wiederum ist sehr sportlich, wenn man sie stemmen kann, aber äusserst unpraktisch, um damit zu fahren. Ein Velo dagegen ist zuverlässig beides: sportlih und nützlich. (Ich gebe zu, auch da gibt es Ausnahmen.)
Ein Velo ist aber noch viel mehr als das, denn es ist über alle Massen multifunktional! Das bedeutet, dass es für vielerlei gebraucht werden kann (Aufzählung unvollständig): sausen, ziehen, spurten, wandern, reisen, umziehen, transportieren, überholen, einholen, wegbringen, holpern, hinfahren, sich umschauen, jemanden besuchen, gewinnen, verlieren, suchen, mitfahren, im Weg stehen, runterbrettern, raufwuchten, hopsen, musizieren, pimpen, pumpen, streicheln, streichen, sich erholen, sich anstrengen, Geld sparen, Geld ausgeben, Lärm machen, aufsitzen, absitzen oder sogar rückwärts einparken.
Daher braucht ein Mensch auch nur ein Velo. Nur ein einziges Velo zu besitzen ist zwar wirtschaftsfeindlich, dafür aber umweltfreundlich. Bestimmte Mitglieder der velopflock-Redaktion wird nachgesagt, sie hätten mehrere Velos in der Garage stehen. Das können wir aber erklären! Das sind allesamt, gewissermassen, dumme Zufälle oder Zeugen unheimlich guter Gelegenheiten gewesen. Aber vor allem sind sie, jedes einzelne, ein echtes LV-SUV.