Das Knochengestell der neuen Dame war also fertig gelötet. Wie kommt nun das Fleisch an die Knochen, und woher kommt es?
Im Keller steht eine Kiste mit den ganzen Anbauteilen der alten Dame. Darüber hängt ein Rennvelo an einem Haken, eigentlich ein phantastisches Gefährt: Titanrahmen, Carbongabel, hydraulische Scheibenbremsen, alles traumhaft — nur fahre ich kaum mit dieser Rakete. Der Rahmen will mir nicht recht passen, und Titan dämpft ja ganz toll, macht mir aber einfach keinen Spass beim fahren. Steel is real!
Ich entscheide mich, die Laufräder und den kompletten Antrieb von der Rakete abzubauen und für den Aufbau der neuen Dame zu verwenden (n-1). Sattel und Sattelstütze übernehme ich von der alten Dame (n-1-1). Die Teile sind zugegebnermassen komplett versifft, aber unter dem Dreck noch bestens in Schuss. Heisses Wasser, Seife und viel WD40 wirken Wunder: der Dreck geht von den Veloteilen auf meine Hände, Arme und Kleider über. Ich bin optimistisch, dass ich bis zu den Sommerferien wieder sauber bin.
Ein paar Teile dürfen dann aber schon neu sein. Deswegen hat der Pöstler vor einigen Tagen ein Paket gebracht: Lenker, mechanische Scheibenbremsen, Bremshebel, Schalthebel, Pedale, Reifen, Schutzbleche, Gepäckträger, Lichtanlage, und was halt sonst noch so an ein Velo geschraubt wird.
Womit beginnt man eigentlich beim Aufbau eines Velos? Ich habe keine Ahnung und lege einfach los. Alles geht erstaunlich gut, bis ich die neuen Reifen aus der Verpackung nehme. Die Contis sind optisch und haptisch ganz nett, aber olfaktorisch echt problematisch. Der Reifengummi verströmt einen teuflischen Gestank; eine potente Mischung von tiefsitzendem Mundgeruch und explosiv-vergammeltem Kompostkessel. Ich versuche, bei Bewusstsein zu bleiben. Auf den Reifen steht “Handmade in Germany”, und ich stelle mir im Delirium vor, dass in der Reifenfabrik alle mit Gasmaske unterwegs sind und einen betriebsinternen Wettbewerb veranstalten, wer den giftigsten Mundgeruch hinkriegt.
Im Hintergrund läuft Musik, und Howe Gelb singt “honey I can help you with your flat tire”, was mich daran erinnert, womit ich gerade beschäftigt war: Reifen auf die Felgen, Schlauch rein, aufpumpen, so wie immer halt. Oder auch nicht. Man sagt ja, ein Könner zieht die Reifen ohne Reifenheber auf. Ist mir aber egal, weil ich habe schon als Kind immer mindestens drei Reifenheber auf einmal zwischen Reifen und Felge gemurkst. Trotz meiner Jahrzehnte langen Reifenhebererfahrung verheddert sich der Schlauch im Stinkereifen zwischen Felge und Reifenheber. Der Schlauch ist futsch und Howe Gelb singt “the story has been told a thousand times”. Blöder Besserwisser. Der zweite Schlauch sieht seine Zukunft offensichtlich auch nicht in dem Stinkereifen und folgt dem ersten in den Abfalleimer. Howe hat wohl recht, und ich nehme mir vor, beim nächsten Velo eine andere CD mit in die Garage zu nehmen.
Irgendwann sind die Reifen aufgepumpt, das Hinterrad eingebaut, die Kette montiert, und die Schaltung samt Hebel und Zügen eingebaut. Aber warum habe ich nur 8 Gänge, wo es doch 10 sein müssen? Warum passt keiner dieser 8 Gänge auch nur halbwegs auf eines der Ritzel der Kassette? Nach einer überfälligen Kaffeepause sehe ich den “MTB“ Aufdruck auf dem Schalthebel. Shit. MTB Schalthebel passen nun mal nicht zu meiner Renner-Schaltwerk; da hat mir der Pöstler offenbar die falschen Schalthebel gebracht. Ein befreiender Brüll-Fluch-Krampf bringt die erlösende Idee: an der Rakete waren doch ganz ähnliche Schalthebel verbaut. Die sehen ja irgendwie ganz ähnlich aus, sind aber bestimmt nicht für MTBs gemacht! Wenn man nun die Raketenhebel und die MTB-Hebel in ihre Einzelteile zerlegt, alles in einer Schüssel miteinander vermischt und dann mit geschlossenen Augen aus der Schüssel nimmt und wieder zusammensetzt, dann müsste das doch gehen! Gedacht, getan, Problem gelöst.
Eine erste Probefahrt vor dem Haus geht glimpflich aus, was ohne Bremsen und Pedale nicht selbstverständlich ist. Pedale, Bremsen, Schutzbleche montieren klappt easy-peasy. Weiter geht’s mit der Lichtanalage. Ich bin ja eigentlich kategorisch gegen Elektronik am Velo, und habe schon als Kind für den Rest meines Lebens beschlossen, dass Stromkabel am Velo einfach nichts verloren haben. Aber die Überzeungen aus meiner Kindheit können heute nicht gegen Howe Gelb anstinken, und der singt gerade “the light gets strong”. Da bleibt mir nichts übrig, als das Stromkabel in das verflixte Führungsröhrchen im Unterrohr einzuziehen. Leider bietet Howe keine Hilfe, als das Schei…kabel im Röhrchen stecken bleibt. Stossen von der einen Seite, ziehen von der andern, und nichts bewegt sich, auch nicht rückwärts. Fluchen hilft nicht, und nicht mal WD40 bringt wie sonst immer die Lösung, weil die Schie…dose nämlich leer ist. Immerhin kann ich Howe Gelb die Schuld für alles in die Schuhe schieben, und schon lässt sich auch das Kabel wieder schieben.
Nach weiteren Stunden in der Werkstatt singt Howe “everything she touches turns to gold”. Ich möchte mir nicht genauer überlegen, warum er mich als “she” besingt. Vielleicht hat der Typ ja einfach keine Ahnung. Viel wichtiger: vor mir steht jetzt ein ziemlich geiles Velo, alles andere zählt jetzt nicht! Achso, wenn wir schon beim zählen sind: n-1-1+1 = n-1. Ich bin trotzdem glücklich!
P.S.: ich habe noch kein Bild von der neuen Dame. Es ist mir leider ein Rätsel, wie man schöne Velos auch auf Bildern schön aussehen lässt. Dafür gibts hier ein Bild vom ahnungslosen Howe, der mir so einfühlsam durch die Höhen und Tiefen in der Werkstatt geholfen hat.
Howe Gelb?! Wenn es je einen Künstlernamen gegeben hat ausser Lady Gaga … Ich neige trotzdem dazu, zu glauben, dass du irgendwie gehackt und beobachtet worden bist, so dass immer ein passender Song gelaufen ist. Keine Hexerei: du hast viele nicht zusammenpassende Teile im Netz bestellt. Da hat sich Google leicht ausrechnen können, dass du irgendwann fluchend in der Garage stehen würdest Big Data halt. Sorgt ja auch dafür, dass immer Fahhraäddr in der Bannerwerbung stehen bei mir.
Danke für den Beitrag. Ich habe jahrzehntelang geglaubt, nur ich leide an velobedingten Wutausbrüchen. Nun mach aber mal ein Foto, ja? Und nenn mir endluch die Dimensionen der Pnös!
An die Pnödimensionen komme ich noch nicht ran. Es stinkt einfach zu heftig, um in Lesedistanz für das Kleingedruckte auf den Reifen zu kommen. Heute am Urban Bike Festival haben alle Leute das Gesicht verzogen und einen grossen Bogen um mein Velo gemacht.