Velomomente (3)

Kürzlich hatte ich eine interessante Unterhaltung mit meinem Sohn. Er ist elf Jahre alt und rief mich vom Mobiltelefon seiner Mutter an. Es war neun Uhr abends. „Na, seid ihr endlich angekommen?“ fragte ich erleichtert, noch bevor ich ihn gegrüsst hatte. Denn erleichtert war ich wirklich. Ich hatte seinen Anruf längst erwartet. Meine Frau war mit ihm und seiner Schwester am Freitagabend ins Wochenende vorausgefahren. Gefahren, das heisst, erst mit dem Zug und dann elf Kilometer mit den Velos zur Unterkunft, entlang einer roten Linie, die ich auf einer Karte im Massstab von circa eins zu zwanzigtausend eingezeichnet hatte. Elf Kilometer, weniger als die Hälfte auf Naturstrasse, hundert Höhenmeter. Mitte September müsste das in einer Stunde und damit vor Einbruch der Dunkelheit zu schaffen sein, hatte ich kalkuliert. Und für den Fall der Fälle hätten zwei der drei starke Lichter an den Rädern. Alles auf der sicheren Seite also. Ich würde dann am Samstag nachreisen.

Er klang gefasst, mein Sohn, während er berichtete, sie stünden im Wald, wüssten aber nicht genau wo. Die Ncht war angebrochen. Zwischen den Bäumen hätten sie vor kurzem Lichter erkennen können, welches Dorf das sein könnte, sei jedoch unklar. Und nein, auf einer Strasse seien sie nicht mehr, es handle sich eher um einen lehmigen und steilen Pfad. Ich war nun etwas weniger gefasst als er und versuchte, mit einem entspannten Lachen die Schwere der Situation zu verschleiern. Trotzdem verlangte ich nach seiner Mutter. Die sei gerade auf Rekognoszierung, wurde mir beschieden. Auch das versuchte ich zu überspielen. „Ja, dann müsst ihr ja sicher schon etwas müde sein, haha!“ machte ich. Leider konnte ich das nicht mehr zurückrufen. „Geht so.“ Zum Glück hatte es mir in jenem Moment noch nicht gedämmert, dass gerade Jagdsaison war. Wer weiss, vielleicht wäre ich dann etwas unsicher geworden. Ich verlangte umgehend eine genaue Beschreibung des Weges, den sie zurückgelegt hatten, oder zurückgelegt zu haben glaubten. Inzwischen sass ich nämlich am Computer, blickte auf die Landkarte und versuchte mir vorzustellen, wo mein Gegenüber stecken könnte. Im Hintergrund hörte ich meine Tochter herumalbern und konnte das kaum, wollte es aber sehr gern glauben.

Da standen meine Kinder also allein in der Dämmerung im Wald, zur Jagdzeit. Grossartig. Um Zeit zu gewinnen, diskutierte ich mit meinem Sohn, nennen wir ihn Hänsel, diverse mögliche Ursachen, wie sie sich hatten verfahren können. Natürlich führte das nirgendwohin. Ich überschlug, wie lange es dauern würde, ein Auto aufzutreiben, zu lernen, wie man ein Handy ortet und dann hinzufahren, um meine Familie zu retten, als doch noch meine Frau ans Telefon kam. Sie hatte mittlerweile eine Hypothese, wo sie sein könnten, denn ganz in der Nähe konnte sie das Tosen eines grösseren Wasserfalles vernehmen. Ich verstand nicht, wie ihr das helfen sollte, denn meine Karte hatte sie längst verloren. Jedenfalls versicherte sie mir, alles sei bei bester Ordnung und sie wisse nun, wie sie zum Haus kommen würden, es handele sich allerhöchstens noch um zwanzig Minuten. Dann legte sie grusslos auf. Es klang ein wenig, als hätte sie jemand dazu gezwungen, mit vorgehaltener Waffe oder etwas Ähnlichem.

Eine Stunde später war ich mit meinen Nerven am Ende, und mit meinen Fingernägeln auch, als Hänsel sich wieder meldete. Ziel erreicht, tolles Abenteuer. Ja, er sei auch ein bisschen stolz auf sich. Nun müsse er aber wirklich ins Bett, denn müde sei er auch, also gute Nacht.

Am nächsten Morgen radelte ich in einer halben Stunde vom Bahnhof zum Haus und stellte fest, dass eine kleine Brücke, über die ich meine rote Linie auf der Karte gelegt hatte, nicht mehr existierte. Es war darum so gut wie unvermeidlich gewesen, dass die drei sich komplett verfransten. Den grossen Rest des Wochenendes verbrachten wir damit, ihre dreistündige Irrfahrt zu rekonstruieren. Ganz gelungen ist es uns nicht. Wenig hilfreich war offenbar ein Bauer gewesen, bei dem meine Frau irgendwann angeklopft hatte, um nach dem Weg zu fragen. Der Bauer hatte den Namen des Weilers, nach dem er gefragt wurde, noch nie gehört, obwohl dieser sicher nicht mehr als drei Kilometer weit entfernt lag. Nur eines von vielen Rätseln jener Nacht. Ein anderes: wie werden unsere Kinder in der nächsten vergleichbaren Situation reagieren? Wenn es vielleicht auch noch regnet? Wenn die letzte Mahlzeit vielleicht noch ein paar Stunden weiter zurückliegt? Sind sie dann noch gelassener, oder kommt ihnen dann jene Nacht am Wasserfall umso heftiger wieder hoch? Wir werden es sicher bald erfahren. Nächstes Mal werde ich mir jedenfalls die Mühe sparen, eine Karte vorzubereiten, denn ohne ist so eine Velotour durch den nächtlichen Wald viel spannender für alle Beteiligten und auch manchen nicht direkt Beteiligten.

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