So sah in den Achtzigerjahren der Schlüssel zum Glück aus. Eine Zeitreise.

Eisglätte und Streusalz (und diverse körperliche Gebresten, könnte ich noch anführen, wenn ich ehrlich wäre; bin ich aber hier nicht) machen im Moment das Velofahren etwas mühsam, so dass man als Velofahrer häufiger das Angebot des öffentlichen Verkehrs einer eingehenden Prüfung unterzieht. Einen der langen dunklen Abende nutzte ich kürzlich, um Zimmer, Schränke und Schachteln auszumisten. Das ist ein Ritual, um Platz für allfällig eintreffende Weihnachtsgeschenke zu schaffen. Dabei kam mir ein Plastikbeutel mit Kleinmaterial zur Reparatur von Fahrrädern in die Hände. Mein Schwiegervater hatte ihn mir vorbeigebracht, als er seinerseits seine Schränke auf Weihnachten vorbereitet hatte.

Neben Tuben mit ausgehärteter Vulkanisierlösung, spröden Gummischläuchen für Dunlop-Ventile und etlichen Dosen mir Flicken fand ich auch mehrere metallene Reifenheber, welche über Jahrzehnte das eninzig verfügbare Modell gewesen war.

Pneuheber. Schweiz, undatiert.

Ein Designklassiker, eigentlich. Dass er in den letzten Jahren von Plastikdingern verdrängt wurde, muss an seinem exorbitanten Gewicht liegen; das fröhliche Klimpern in der Satteltasche kann es ja wohl kaum gewesen sein, wer würde dieses Geräusch nicht mögen! Kratzer auf der Felge wiederum konnte man durch geschicktes Hantieren einigermassen verhindern. Jedenfalls stimmte mich der Fund der Reifenheber schon mal nostalgisch. Sie stammten schliesslich aus einer Zeit, als man tatsächlich ab und an einen Platten hatte. Heute passiert das kaum mehr. Weil wir aber generell etwas misstrauisch gegenüber unserem Schicksal geworden sind, fahren wir weiterhin mit Flickzeug durch die Gegend. Ich hatte in den letzten dreizehn Jahren einen einzigen Platten an meinem Mountainbike zu beheben.

Ganz zuunterst in dem Beutel machte ich dann den Fund des Tages. Er schickte meine Gefühle – noch mehr als meine Gedanken – endgültig in die Vergangenheit zurück, und so kurz vor Weihnachten und nach dem kurz davor erfolgten Wiedersehen mit Doc Brown in „Back to the Future“ war das ganz in Ordnung, fand ich. Der Gegenstand, der mir kurz den Atem nahm, weil ich innert Sekundenbruchteilen erkannte, dass ich ihn seit Jahren nicht mehr gesehen und ihn doch gar nie vermisst hatte, war dieser hier:

Schlüssel für Fahrradschloss. Mitteleuropa, ca. 1980

Wie konnte ich ihn bloss nicht vermissen? Von Geburt an, bis ich mein auch heute noch schmerzlich vermisstes Hollandrad bekam, hatte ich nichts anderes benutzt, um meine Fahrräder abzuschliessen. Das war zwar eine Zeit, in der man sein Velo bedeutend seltener abschloss als heute; ein Alltagsgegenstand war es trotzdem, und man trug ihn stets auf sich. (Ich erinnere mich an einen Mitschüler, der seinen Veloschlüssel mit Paketschnur um den Hals gebunden trug. Im Infight beim Fussball auf dem Pausenplatz schlug mir sein Schlüssel ständig gegen die Stirn, und ich ärgerte mich darüber vor allem deshalb, weil ich es für unnötig hielt, dass er sein Velo überhaupt abschloss. Ausserdem war er ein noch mieserer Fussballer als ich.) Dieser ungewöhnlich lange Schlüssel war allerdings ein Alltagsgegenstand. Und zwar einer mit Symbolkraft: es war der Schlüssel zur Freiheit, denn ich benutzte ihn, wenn ich ins Nachbardorf fahren wollte, um mein Erspartes dem Spielwarenhändler zu spenden. Ich nahm in zur Hand, wenn ich mittwochs kurz nach zwei Uhr alle Hausaufgaben erledigt hatte und endlich zu meinen Freunden auf die erst gerade vorbereitete Baustelle fahren konnte, um über Dreckhaufen zu sausen, nichts von BMX-Rädern ahnend. Und er schloss mir mein Velo auf, damit es mich ferienmorgens ins Schwimmbad und ferienabends wieder nach Hause bringen konnte. Lauter positive Assoziationen also, da kann es nicht verwundern, dass mich ein wohliger Schauer überlief, als ich diesen wie immer mit dem Schriftzug HEBIE versehenen Schlüssel in der Tüte antraf. Der Mensch ist schliesslich in erster Linie ein Pawlowscher Hund.

Ich feierte die Entdeckung wie das Wiedersehen mit einem Freund aus Kindertagen. So schön hatte der Schlüssel früher nie ausgesehen, schien mir. Aber vielleicht hat sich ja auch nur mein ästhetisches Empfinden geändert über die Jahre, was ich sehr hoffe. Für die Jüngeren unter Ihnen: Dieser Schlüssel gehört zu einem so genannten Speichenschloss. Ein solches war in den Siebziger- und Achtzigerjahren an der linken Hintergabel fast aller Alltagsräder angeschweisst. Das Schloss war nicht mehr als ein Riegel, eine blosse Wegfahrsperre und in den heute gängigen Klassierungen nach der Sicherheit gegen Diebstahl schlicht unterirdisch. Sogar im Neuzustand konnte ein gezielter Tritt das Schloss unauffällig entfernen. War die Halterung erst einmal angerostet, war der Diebstahl noch viel einfacher. So alt ist dieses System zum Diebstahlschutz, dass im Internet kaum Spuren davon zu finden sind, und wer kann das schon von sich behaupten? Es wundert mich nicht, dass Bilder von einem ¨HEBIE Trumpf-Speichenschloss¨ fast nur auf Verkaufsplattformen zu finden sind. Eines der letzten Modell in Riegelform sah so aus:

Speichenschloss Hebie Trumpf. Deutschland, ca. 1986.

Ich habe beschlossen, den Schlüssel demnächst an die Wand zu hängen, wo ich ihn jeden Tag gut sehen kann. Er soll mich daran erinnern, wie einfach das Leben früher war, was das Velo alles Grossartiges für mich tun kann, und dass ich nochmals kurz überlegen soll, ob alle meine Velos in Sicherheit sind. Und weil er so schön ist, noch einmal:

Ein bisschen wie das Turiner Grabtuch, nur jünger. Dafür sicher echt.

Ein Gedanke zu “So sah in den Achtzigerjahren der Schlüssel zum Glück aus. Eine Zeitreise.

  1. Damals© war das Leben noch klar und ein „richtig gutes“ Velo kostete im Großkanton um die 1000 Schwabenmark. Zahlenschlösser waren noch verbreitet wie Heu und Stahlkurbeln ebenso. Dagegen ist mein Alltagsrad heute purer Goldstaub….. 😉

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