Als wäre es ein gewöhnlicher Schultag, sind die Kinder nicht aus dem Bett zu kriegen. Von ihrer Mutter ganz zu schweigen. Dabei drängt die Zeit heute doch. Aber irgendwann macht eines den Anfang, und die Drohung, das Frühstück werde nach der Reihenfolge des Eintreffens am Tisch verteilt, wirkt. Tatsächlich wäre die Drohung gar nicht umzusetzen. Der Tisch im Wohnzimmer unseres Gästehauses biegt sich nämlich unter der Last von Croissants, Baguette, Brot, Kugelhopf, Zitronen-Mohn-Kuchen und anderen Herrlichkeiten. Wobei das Baguette den kleinsten Teil beiträgt, und so soll es ja auch sein. Wir verschieben die Abreise gern um eine halbe Stunde. Oder eine ganze.
Irgendwann sind alle Taschen angehängt, alle Helme aufgesetzt, Schals geknotet, Handschuhe unter Ärmel gestopft, und alle haben ihr „Oröwuahr“ aufgesagt. Wir fahren in Einerkolonne zurück, wo wir am Vorabend hergekommen sind, aus dem Dorf hinaus und von der Landstrasse, die hier route départemental heisst, runter auf den Radweg am Kanal. Das nächste Auto werden wir erst am Mittag aus der Nähe sehen, und auch dann nur, weil uns der Hunger vom Damm hinüber in ein Dorf treibt. Schnurgerade führt der Radweg dem Rhein-Rhone-Kanal entlang, nur alle paar Kilometer sorgt ein Brückenwiderlager, das es zu umfahren gilt, für einige Sekunden milde fahrtechnische Herausforderung.
So gerade verläuft der Kanal, dass nach einer Stunde der erste Nachwuchs-Radfahrer zu schimpfen beginnt, das sei ja sterbenslangweilig, so ganz ohne Kurven. Aber dann taucht ganz plötzlich ein Kastanienbaum am Wegrand auf. Schnell werden die Taschen gefüllt, und eine mehrere hundert Meter lange Kastanienschlacht lang ist nur noch Gelächter und Kreischen zu hören.
Picknick am Mittag wird verworfen, weil es zu kühl ist, also suchen wir das nächste Dorf auf, um im Restaurant La Couronne den plat du jour zu testen und uns aufzuwärmen. Erst als viel später die Kinder rappelig werden und der Geräuschpegel an unserem Tisch rapide ansteigt, verlassen wir zögerlich die warme Gaststube. Die Herbstsonne ist nicht wirklich warm, aber einen Gegenwind fabrizieren, das kann sie noch alleweil. Ich versuche wieder einmal, den Kindern die Vorzüge des Windschattenfahrens zu vermitteln, aber spätestens nach zehn Sekunden ist immer irgendwas anderes interessanter als das Sparen von Energie. Eine Bisamratte. Ein Eisvogel! Ein Fluss, der unter dem Kanal durchführt. Ein Mähdrescher. Ein Wasserturm. Mehr Kastanien. Oder der kleine Bruder nervt, weil er vor der grossen Schwester nicht bloss Schlangenlinie fährt, sondern auch noch lauthals dazu lacht. Die andere Schwester fährt derweil weit voraus, was auch nichts macht, weil sie sich auf dem Kanalradweg nur sehr schwer verfahren kann.
Einen notfallmässigen Abstecher in den nächsten Supermarkt und ein Paket Lebkuchen später ist aber Strasbourg erreicht. Der Radweg reicht bis an den Rand der Altstadt, und den Rest der Strecke bis zur nächsten Unterkunft gehen wir gerne zu Fuss durch den abendlichen Strom von Menschen auf dem Heimweg. Eine gute Gelegenheit, Restaurants für das Nachtessen auszukundschaften. In einer generalstabsmässigen Logistik-Übung bringen wir unsere Fahrräder so gut wie unbemerkt von Nachbarn oder Vermieter, eines nach dem andern, mit dem Drei-Personen-Aufzug in den Loft in der fünften Etage, den wir heute gemietet haben. Die Aussicht aus den riesigen Fenstern ist so überwältigend, wie sie im Internet ausgesehen hatte. Allerdings wäre nach einem ganzen Tag auf dem Fahrrad an der recht frischen Luft wohl ziemlich jede Aussicht aus einer geheizten Wohnung überwältigend, und so beschliesst der Familienrat, dass Papa Kebab holen geht. Der Restaurantbesuch fällt heute aus. Die ersten Kinder schlafen ein, bevor die Geschichte zu Ende vorgelesen ist.
Die Tage in dieser Woche gleichen sich. Radeln, einkehren, radeln, einkehren und jeden Abend in einem anderen Bett selig einschlafen. Jeden Tag fahren wir einem anderen Kanal entlang, auch mal einem mit Kurven. Vorbei an Schleusen, grossen und kleinen, Münstern und Kirchen, Feldern und Wäldern. Eine Etappe durch die Weinberge lässt einen die flache Monotonie der vergangenen Tage an den Kanälen ganz anders betrachten. Langweilig wird es auch zwischendurch, und das ist ganz in Ordnung so. Dann kehrt jeweils kurz Stille ein im Velozug, bis einem Kind der Kragen platzt und es sich über die Monotonie beschweren muss. Und sowas in den Ferien! Und überhaupt. Dann steigen wir ab, jagen einander zu Fuss um die Räder herum, putzen Nasen, tauschen, wo das geht, unsere Velos aus, essen etwas und fahren weiter. Gegen Abend wird auch mal im Flachen ein Kind geschoben. Manchmal staunen wir Eltern selber darüber, wie gerne und selbstverständlich die Kinder mitfahren. Und am Ende, im Zug zurück nach Hause, ergibt eine durchaus repräsentative Umfrage unter den Teilnehmern der Reise (Stichprobe n=5, Rücklauf 100 %), dass der nächste oder übernächste Urlaub oder irgendein Urlaub in nächster Zeit wieder auf dem Velo stattfinden soll.
STR ist ein schönes Eck. War für unsere „Testtour“ im Herbst ideal, bevor wir danach gen Baltikum ausgerückt sind. Und die Kleinen schaffen meist mehr Strecke als man denkt.