Gestern Sonntag war es, da schickte ich mich an, wie jedes Jahr ein uraltes vorösterliches Frühjahrsritual auszuüben, eine Art Winteraustreibung, ein heidnischer Brauch also. Jedes Frühjahr, ungefähr am dritten aufeinanderfolgenden sonnig-warmen Märzentag, verspüre ich den unwiderstehlichen Drang, mich zum ersten Mal nach der frostbedingten Winterpause zu sportlichen Zwecken aufs Rad zu setzen. Immer vorausgesetzt, es hat sich bereits ein Regenereignis zugetragen und die Streusalzreste, welche meinen Lieblingen arg zusetzen könnten, in den Gully verdammt.
Und gestern Sonntag war es eben wieder so weit. Das Ritual läuft so ab (zum Selberpraktizieren empfohlen): Der MC (Master of Ceremony) zieht ganz viele Radklamotten an, denn er weiss ja, dass in dieser Jahreszeit der Test auf dem Balkon trügt und es auf dem Velo immer deutlich kälter ist. Deswegen etwas unbeweglich, begibt er sich dann in die Garage und stellt sich vor das Velo seiner Wahl (2016 war dies das Mountainbike). Nun folgt der Höhepunkt des Rituals: Der MC registriert erstaunt, dass das Velo nach der letzten Ausfahrt im Herbst nicht gereinigt wurde und nur bei sehr grosszügiger Auslegung des Begriffes „fahrbereit“ benutzt werden kann. Mit grosser äusserer Gelassenheit (das Resultat jahrelangen Praktizierens) und geringer innerer Gleichmut (das Resultat wochenlanger Vorfreude) wägt er nun ab: soll er das Velofahren sausen lassen oder soll er mit unwürdigen Verrenkungen (um seine rituellen Gewänder nicht einzusauen) eine oberflächliche Reinigung durchführen? Der MC ist bei seiner Entscheidung frei, die Schriften schweigen zu dieser Frage. Seit Menschengedenken stimmt der MC jedoch immer ein scharfes, von Spucken begleitetes Gemurmel an, wedelt mit einem weichen, fusselfreien Baumwolltuch dreimal über den Antrieb und salbt selbigen mit geweihtem Öl (er könnte ihn auch mit geweihter Salbe ölen, aber das kommt nur selten vor). Es folgt der feierliche Gang aus der Garage ans inzwischen vom Dunst getrübte Tageslicht, nicht selten begleitet durch böige Windstösse in der Luft, die eben noch still wie ein Osterlamm dagelegen hatte. Die Jungfernfahrt kann beginnen.
Wie es unsere Zeit aber so an sich hat: Nichts ist mehr, wie es einmal war. Gestern stellte der MC mit ehrlichem Erstaunen fest, dass das Rad in der Tat sauber und geschmiert war. Nach der letzten Ausfahrt im November war es in berechtigter Erwartung milder Dezembertage für weitere Einsätze bereit gemacht worden. (Zu diesen Einsätzen war es dann dummerweise nicht mehr gekommen, weil sich der MC genau in dem Jahr in der Wasserrutsche eine langwierige und mit Schmerzen aller Art verbundene Rippenprellung zugezogen hatte.) Unter Absingen fröhlicher Lieder zog der MC in die Wälder.
Religiös ging es weiter: hinter einer scharfen Biegung eines schmalen Pfades in einem steilen Abhang begegnete der MC (das bin eigentlich ich, für all jene, die das noch nicht bemerkt haben sollten), begegnete ich also einem betagten, aber trittsicheren Ehepaar. Die Frau ging voraus. „Ist das nicht Gott versucht, mit dem Velo auf diesem Pfad?“ (Bei Gott, genau dies waren ihre Worte!) „Nein“, antwortete ich treuherzig, denn ich kann nicht anders, „wenn man vorsichtig ist, ist das kein Problem.“ „Wirklich nicht?“ Die Dame wollte es genau wissen. „Wirklich nicht“, versicherte ich ihr. Damit gab sie sich nun zufrieden und meinte leichten Herzens: „Na dann, gute Fahrt.“ Und das hatte durchaus keinen resignierten oder zynischen Unterton. Also ich deute diese schöne Begegnung als ein gutes Omen und ein deutliches Vorzeichen einer langen und gefreuten (schweizerdeutsch für affengeil) Bikesaison. Mögen noch weitere folgen, Begegnungen, meine ich.
Als ich durch die letzten Schneereste pflügte, ging mir auf, dass hier noch kein Winter-Haiku veröffentlicht worden ist.
Der Winter ist doch,
fährt man Rad aus ganzem Herz,
ein alter Stinker.
Wer es durch solche Schneehöhen schafft, muss doch gar keine Winterpause einlegen…….oder?!
Hurra, du bist der Erste, der den Fehler bemerkt hat: Velofahren ist gar keine Saisonbeschäftigung… im konkreten Fall des Bildes war das Rad übrigens zuerst, dann kam der Schnee.