Velopflock hält Augen und Ohren immer offen und kümmert sich um möglichst viele Aspekte der wunderbaren Maschine und was man damit so alles anstellen kann. Darum wurde ein Redaktionsmitglied samt Rennrad zu einer Trainingswoche nach Umbrien in Mittelitalien geschickt. Damit auch die Gümmeler unter unseren Lesern wieder mal auf ihre Rechnung kommen.
Es war eine erlebnisreiche Woche, die morgen zu Ende geht. Das Programm war von vornherein gegeben: Kilometerfressen, Pastafressen, Fernsehen und schlafen. Alle Punkte habe ich zu meiner vollen Zufriedenheit erfüllt. Das Kilometerfressen hatte es allerdings in sich. Statt Lycrakluft hätte ich auch Jeans, Jeanshemd, Weste und Chaps anziehen können. Als Rodeoreiter hätte ich nämlich eine ebenso gute Figur abgegeben wie als Radfahrer auf den Strassen Umbriens. Oder umgekehrt gesagt: Um hier auf dem Velo zu überleben, ist Erfahrung im Umgang mit wild ausschlagenden Pferden sicher nicht hinderlich. Das war Bullriding! Der Zustand der Strassen im Umbrien spiegelt die Lage der italienischen Nation anschaulich wieder. Das Geld scheint nur gerade für pizzagrosse Flicken im Belag da und dort auszureichen, und das offenbar schon seit Jahren. Mit dem Resultat, dass man nun in Löcher im Belag reinfahren kann, die zwei Zentimeter tief sind und einen Blick auf die nächstältere Belagsgeneration eröffnen. Und mit etwas Glück auch noch tiefer runter.
Üblicherweise warnt in unserem Minipeloton jeweils der Vordermann seinen Hintermann mit einer Handbewegung vor Schlaglöchern oder anderen Hindernissen. Das haben wir hier nach den ersten fünfhundert Metern sein lassen, weil jede Hand am Lenker gebraucht wird. Auch aussen an der Randlinie zu fahren, wo immer die spitzen Steine und die Scherben liegen, ist zu Hause tabu. Hier nicht: Was kümmert mich ein Platten, wenn ich dafür keinen Abwurf riskieren muss? Da draussen, ganz rechts, gibt’s nämlich keine Löcher (schön, wenn das in der Politik auch so wäre).
Am ersten Tag überquerten wir auch gleich zum ersten Mal die Grenze zwischen Umbrien und der Toscana. Schlagartig wurde der Belag besser. Als ob man von einer Stollenbahn in einen ICE gebeamt worden wäre – das Bild bezieht sich auf den Fahrkomfort, nicht auf die Geschwindigkeit. Obwohl man natürlich auf einer belagsähnlichen Fläche schon schneller fahren kann als auf einem Schlachtfeld in den Ardennen. Die Hypothese erhärtete sich im Lauf der Woche zur Theorie: An der Grenze zur Toscana wird der Belag wie abgeschnitten heil. Hier zu sehen. Na ja, vielleicht hört die Herrlichkeit ja auch wieder auf nach dreihundert Metern, wenn keiner mehr gross daran denkt… glaub ich aber nicht.
Die hässliche kleine Schwester der Toscana scheint wirklich weniger Geld zu haben – oder aber es einfach nach anderen Prioritäten zu verteilen. Und das ist schade, denn landschaftlich steht Umbrien der Toscana in gar nichts nach. Rauer, ursprünglicher, weniger dicht besiedelt und weniger intensiv genutzt. Dafür mit überraschenden Ausblicken, kleinen, nicht aufgemotzten Städten auf Hügeln drauf (es muss früher mal eine Prämie fürs Bebauen von Hügeln gegeben haben) und richtigen Einheimischen. Der Genuss auf unseren Touren war denn von der Misere unter den Rädern fast ganz ungetrübt, es ist schliesslich nie zu einem Sturz gekommen (Grazie, Dio). Dafür sind wir beispielsweise heute durch ein komplett unbewohntes Tal auf einen Pass rauf- und hinten in weiten Bögen auf guter toskanischer Strasse komplett ohne Verkehr von hinten oder vorne wieder runter gefahren.
Und wenn es dann Verkehr hat, dann sind die Italiener äusserst tolerant und rücksichtsvoll. Auch auf Ortsdurchfahrten hat kein einziger versucht, uns wegzuhupen. Überholt haben alle mit grossem seitlichem Abstand – und der Gegenverkehr nahm den temporären Geisterfahrer immer ganz selbstverständlich hin. Man stelle sich das in der Schweiz vor. Auf Überlandstrecken hupt ab und zu einer hundert Meter, bevor er den Radfahrer überholt, damit dieser beim eigentlichen Überholmanöver dann nicht erschrickt. Und ein Winken oder einen aufmunternden Spruch gibt’s obendrein.
Das Fazit dieser Woche ist durchzogen. Einerseits wurde uns klar vor Augen geführt, was eine intakte Infrastruktur für Velofahrer wert ist. In meinem Fall mindestens das Geld für einen neuen Steuersatz. Andererseits ist eine Kultur des Anstandes, der Toleranz und der Rücksichtsnahme auf schwächere Verkehrsteilnehmer auch mit etlichen ins Strassennetz investierten Steuermilliarden nicht zu kriegen, wie der Alltag in der Schweiz täglich zeigt. Die Velobegeisterung Italiens in einem reichen Land wie der Schweiz, das wäre eine hoffnungsvolle Kombination. Nach Umbrien käme ich aber jederzeit wieder – bloss nicht mit dem Rennrad. Aber es gibt ja noch sooo viele andere Spielarten dieser Maschine, nicht?