Velomomente 11

[Velo-Moment, der: Ein Erlebnis, eine Einsicht, Erfahrung oder Erinnerung, das bzw. die im Zusammenhang mit einem Velo oder einer Velofahrt entstanden ist und anders nicht hätte entstehen können.]

Was tun an einem Tag, an dem man nicht zur Arbeit muss und auch sonst keine Verpflichtungen hat? Nichts leichter als das, wenn man gern Velo fährt. Ausser es regnet in Strömen. Ein Erfahrungsbericht.

Die Aussicht, über einen ganzen Tag frei verfügen zu dürfen, ist für einen erwachsenen Menschen mit Erwerbsarbeit und Familie und obendrein dem Hobby „Velofahren und so“ ebenso vielversprechend wie gefährlich. Bei schönem Wetter lautet die Frage bloss: „Wohin fahren und mit wem?“ Mit einer miesen Wetterprognose für den ganzen Tag aber ist klar: Es lauert ein Loch auf mich, dunkel und tief, und auf seinem Boden steht geschrieben: „Du Pfeife! Hast einen ganzen freien Tag vertrödelt, ohne dich entscheiden zu können, was du mit der wertvollen freien Zeit anfängst? Echt?“ Und teuflisches Hohngelächter setzt ein. Kännsch? (Schweizerdeutsch für „Hast du das auch schon erlebt?“) Ich auch. Zur Genüge. Erst mal ausschlafen! Mal gemütlich frühstücken mit der Familie, die sich dann bald aus dem Staub machen wird zu individuellen Unternehmungen. Danach in Ruhe Zeitung lesen. Vielleicht wieder mal die Beine rasieren, damit ich mich jünger und fitter und mehr wie ein trainierender Velofahrer fühle? Und danach den einen langgehegten Tourenplan rausholen, der schon seit Monaten (Natürlich nicht. Seit Jahren.) auf meinem Komoot-Konto vor sich hin fault. Und ihn endlich umsetzen, mit seinen ganzen hundert Kilo- und zweitausend Höhenmetern. Das wird ein Erlebnis! Oh: die Kette braucht noch Öl. Ist der neue Helm schon eingestellt? Waren da nicht noch irgendwelche Zahlungserinnerungen aus dem späten Frühling?

Dann ist es unversehens drei Uhr, und hatte ich nicht versprochen, ein gesundes Abendessen aus regionalen Produkten vom Hofladen nur vier Kilometer von hier zu kochen? An diesem Punkt überschlagen sich die Ereignisse: Hektische Prioritätensetzung, fahrige Prüfung von rapide schwindenden Optionen, ein Sturzbach von Frustration (jetzt fault das noch weiter auf Komoot), Enttäuschung (wieso passt das jetzt schon wieder nicht?) und schlechtem Gewissen (das Abendessen! die Rechnungen!), der über mich hereinbricht. Wenn ich dann um halb zwölf nudelfertig ins Bett krieche, ist das Velo ungefahren und ungeölt, die Beine unrasiert, und das Abendessen war etwas aus Resten, das niemandem geschmeckt hat, am wenigsten mir selber. Scheisstag.

Aber nicht heute! Heute würde alles anders, denn bei dieser Wetterprognose (21 mm Niederschlag, fein säuberlich auf die ganzen 17 Stunden Tageslicht verteilt) ist von Anfang an klar: Rumliegen ist erlaubt, Trödeln Pflicht, und der Garten wird sowieso von den Schnecken besetzt gehalten. Worüber sollte ich also am Abend frustriert sein? Sogar wenn ich zwölf Stunden an die weiss gestrichene Decke starren würde, wäre das erholsam und gut für Körper und Seele.

Derart entspannt, kamen mir gute Ideen reihenweise, aber unaufdringlich, ohne Stress auszulösen. Ich ergriff gleich den ersten Gedanken, und als das Thermometer wider Erwarten die Fünfzehn-Grad-Grenze erreichte, zog ich die Regenkleidung über und setzte mich auf mein Velo, um in die Stadt zum Schwimmen zu fahren. Die Fahrt im Trockenen, unter der Pelerine, mit den hässlichen Galoschen über den Schuhen, fühlte sich an wie eine Wellness-Dusche (Erdbeeren danach, gereicht in einer hübschen Schale, wären nett gewesen). Die Tatsache, dass ich neben einzelnen Tourenfahrern beinahe der einzige Velofahrer war, hat den Genuss noch etwas gesteigert (kännsch?). Was mich selbst überraschte: Ich sah die Strecke mit anderen Augen an als wenn ich sie täglich auf dem Weg zur Arbeit zurücklege. Beim Pendeln fühle ich mich zwar nicht gehetzt. Trotzdem sehe ich andere Dinge, bin wohl auch schneller unterwegs als an einem Wochenende. So fiel mir beispielsweise auf dem Weg ins Freibad ein Ölfleck auf der Strasse auf:

Im Freibad waren wir zu viert: zwei Schwimmer, ein Bademeister und der Gärtner. Ich schwamm also alleine in meiner Bahn im Becken (besonders beim Rückenschwimmen ein Vorteil), der Regen zischte auf der Wasseroberfläche, und zum Abschluss hatte ich die grosse Rutschbahn ganz allein für mich. Das ist ein nicht zu unterschätzendes Privileg, denn ich gebe gerne zu, dass ich mich an heissen Sommertagen nicht darum reisse, mit einer Horde Kinder in der Warteschlange auf der Treppe zu stehen.

Zufrieden kam ich am Ende aus der Garderobe. Auf dem Heimweg war genügend Zeit für die eine oder andere Besorgung, und das Essen stand am Abend pünktlich auf dem Tisch, gesund und rerional produziert. Zweiundzwanzig qualitativ hochstehende Kilometer auf der Glücksmaschine Velo hatten genügt für einen erinnerungswürdigen Tag – zwar nicht in der gleichen Liga wie die Sommerferien oder die Fahrt über den Stelvio. Eher ein Microadventure, und darum eine Blaupause und ein Versprechen für weitere Zwischenhochs im Alltag. Die Geheimformel: Just Ride!

3 Gedanken zu “Velomomente 11

  1. Danke für die schöne Geschichte
    … wieder ein Beleg für den tollen Spruch, der leider nicht von mir ist…..
    Machen ist wie Wollen, nur viel geiler….

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